07.02.2012 Strafrecht

OGH: § 52 StPO – Bedenken an der Verfassungskonformität des generellen Ausschlusses des Rechts, Kopien von Ton- oder Bildaufnahmen zu erhalten?

Dass § 52 Abs 1 StPO das Recht, Kopien von Ton- oder Bildaufnahmen zu erhalten, ausnahmslos verneint, solcherart eine Abwägung von Verteidigungsinteressen gegen - der Ausfolgung einer Kopie allenfalls entgegenstehende - schutzwürdige Interessen Dritter (Art 8 EMRK) ausschließt, erweckt Bedenken (Art 89 Abs 2 B-VG) im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b EMRK und allenfalls - soweit die Regelung eine differenzierende Betrachtung für jene Fälle, in denen (wie hier) Ton- und Bildaufnahmen im Verfahren eine zentrale Rolle als Beweismittel spielen, nicht zulässt - mit dem Gleichheitssatz nach Art 2 StGG (Art 7 Abs 1 B-VG)


Schlagworte: Rechte des Beschuldigten, Akteneinsicht, Kopien von Ton- oder Bildaufnahmen, Recht auf ein faires Verfahren, Gleichheitssatz
Gesetze:

§ 52 StPO, Art 6 EMRK, Art 2 StGG, Art 7 Abs 1 B-VG

GZ 12 Os 57/11s, 18.10.2011

 

OGH: Der Angeklagte muss gem Art 6 Abs 3 lit b EMRK über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung verfügen. Einer diesbezüglichen Grundrechtsverletzung vor der Hauptverhandlung kann er in dieser durch eine Antragstellung, die auf Erkundungsbeweise gerichtet wäre, nicht wirksam iSd Art 13 EMRK begegnen.

 

Gem § 51 Abs 1 StPO ist der Beschuldigte (Angeklagte, § 48 Abs 2 StPO) berechtigt, in die der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungs- und des Hauptverfahrens Einsicht zu nehmen. Das Recht auf Akteneinsicht berechtigt auch dazu, Beweisgegenstände in Augenschein zu nehmen, soweit dies ohne Nachteil für die Ermittlungen möglich ist.

 

Soweit dem Beschuldigten (Angeklagten) Akteneinsicht zusteht, sind ihm auf Antrag und gegen Gebühr Kopien (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts) auszufolgen oder herstellen zu lassen; dieses Recht bezieht sich jedoch nicht auf Ton- oder Bildaufnahmen (§ 52 Abs 1 StPO).

 

Festzuhalten ist, dass das Landesgericht für Strafsachen Wien den Zugang zu den Videoaufzeichnungen nicht verwehrt, die Antragsteller vielmehr auf die Möglichkeit des Augenscheins während der Amtsstunden hingewiesen hat.

 

Zum Fairnessgebot des Art 6 Abs 1 EMRK gehören Teilgewährleistungen wie der Grundsatz der Waffengleichheit  und das Recht auf Akteneinsicht. Der Angeklagte muss gem Art 6 Abs 3 lit b EMRK über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung verfügen. Dies erfordert auch in bestimmtem Umfang den Zugang zu Beweismaterial. In jüngerer Rsp betonte der EGMR, aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ergebe sich auch das Recht des Angeklagten, erforderlichenfalls Kopien von Aktenteilen zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass der vom EGMR gebrauchte Begriff „case materials“ (EGMR 9. 10. 2008, Moiseyev gegen Russland, Nr 62936/00) sich auf alle Aktenstücke, seien diese nun schriftlich oder audio-visueller Natur, bezieht.

 

Dass § 52 Abs 1 StPO das Recht, Kopien von Ton- oder Bildaufnahmen zu erhalten, ausnahmslos verneint, solcherart eine Abwägung von Verteidigungsinteressen gegen - der Ausfolgung einer Kopie allenfalls entgegenstehende - schutzwürdige Interessen Dritter (Art 8 EMRK) ausschließt, erweckt Bedenken (Art 89 Abs 2 B-VG) im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b EMRK und allenfalls - soweit die Regelung eine differenzierende Betrachtung für jene Fälle, in denen (wie hier) Ton- und Bildaufnahmen im Verfahren eine zentrale Rolle als Beweismittel spielen, nicht zulässt - mit dem Gleichheitssatz nach Art 2 StGG (Art 7 Abs 1 B-VG).

 

Ein in zweiter Instanz zur Entscheidung berufenes OLG hat nach Art 89 Abs 2 zweiter Satz B-VG bei Bedenken gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit den Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes beim VfGH zu stellen.