31.12.2012 Zivilrecht

OGH: Zu den Fragen, ob auch „Krisenpflegeeltern“ einem Verfahren auf Entziehung der Obsorge gem § 176 ABGB beizuziehen sind und wie weit die Nachforschungspflicht des Gerichts zur Ermittlung allenfalls weiterer dem Verfahren beizuziehender Parteien geht

Vom Jugendwohlfahrtsträger bestellten Dauerpflegeeltern stehen auch die Rechte nach § 186 ABGB zu; aktenkundige Parteien sind neben den vom Antragsteller als weitere Antragsteller oder Antragsgegner bezeichneten Personen alle jene, deren materielle Parteistellung sich aus den im konkreten Gerichtsakt befindlichen Informationen ergibt; das Gericht hat daher von sich aus auf die Wahrung der Rechte dieser Personen zu achten, wobei es aber keine umfassende Nachforschungspflicht nach allen möglichen Eventualitäten in Richtung eines Erkundungsbeweises trifft


Schlagworte: Familienrecht, Entziehung / Einschränkung der Obsorge, Pflegeeltern, Krisenpflegeeltern, Nachforschungspflicht des Gerichts, beizuziehende Parteien, aktenkundige Parteien, Rekursfrist
Gesetze:

§ 176 ABGB, § 177 ABGB, § 186 ABGB, § 8 AußStrG, § 178a ABGB, § 9 AußStrG, § 46 AußStrG

GZ 8 Ob 54/11s, 29.06.2011

 

OGH: Gem § 186 ABGB haben Pflegeeltern, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen und zu denen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahe kommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll, in dem die Person des Kindes betreffenden Pflegschaftsverfahren das Antrags- und damit auch das Rekursrecht, und zwar auch in Verfahren, die nicht über ihren Antrag eingeleitet wurden. Auf die Art des Begründungsakts kommt es letztlich nicht an, bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale ist die Pflegeelterneigenschaft kraft Gesetzes gegeben.

 

Zutreffend hat das Rekursgericht ausgeführt, dass unter den Pflegeelternbegriff des § 186 ABGB nicht Personen fallen, die das Kind von vornherein nur vorübergehend oder ohne Eingliederung in ihren eigenen Lebenszusammenhang betreuen (zB Internat oder Heim). Keine Pflegeeltern iSd § 186 ABGB sind daher auch „Krisenpflegeeltern“, die Kinder in einer akut gefährdenden Lebenssituation nur für einen von vornherein begrenzten Zeitraum aufnehmen, ohne dass der Aufbau einer dauerhaften familienähnlichen Beziehung angestrebt wird.

 

Abgesehen von den Fällen vorübergehender Krisenunterbringung muss aber bei jeder Vermittlung eines Pflegeplatzes nach § 15 Abs 2 JugendwohlfahrtsG (§ 22 Oö JugendwohlfahrtsG) durch den Jugendwohlfahrtsträger die begründete Aussicht bestehen, dass zwischen den Pflegepersonen und dem Pflegekind eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung hergestellt wird; vom Jugendwohlfahrtsträger bestellten Dauerpflegeeltern stehen somit auch die Rechte nach § 186 ABGB zu.

 

Das nach § 49 Abs 2 AußStrG zulässige Vorbringen der Rekurswerber, sie seien seit mehr als einem Jahr die Dauerpflegeeltern des Kindes, ist unstrittig. Die nachträgliche Bestätigung dieses Vorbringens durch den Jugendwohlfahrtsträger ist auch im Rechtsmittelverfahren zu Gunsten des Kindeswohls zu beachten, da Obsorgeentscheidungen nur dann sachgerecht sein können, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen.

 

Die Revisionswerber sind daher als Pflegeeltern des Kindes grundsätzlich rechtsmittellegitimiert. Die Rechtzeitigkeit ihres Rekurses hängt aber davon ab, ob ihre Parteistellung auch als aktenkundig anzusehen war. Der Umstand, dass die aktenkundigen Parteien im voraus einen Rechtsmittelverzicht erklärt haben, wirkt sich nach § 46 Abs 2 AußStrG zu Lasten von nicht aktenkundigen Parteien aus, deren Frist in diesem Fall auf den Zeitraum zwischen Verkündung und Zustellung des Beschlusses verkürzt wird.

 

Aktenkundige Parteien sind neben den vom Antragsteller als weitere Antragsteller oder Antragsgegner bezeichneten Personen alle jene, deren materielle Parteistellung sich aus den im konkreten Gerichtsakt befindlichen Informationen ergibt. Das Gericht hat daher von sich aus auf die Wahrung der Rechte dieser Personen zu achten, wobei es aber keine umfassende Nachforschungspflicht nach allen möglichen Eventualitäten in Richtung eines Erkundungsbeweises trifft.

 

Im vorliegenden Verfahren ist dem Rekursgericht zuzustimmen, dass das Erstgericht zunächst nach der Angabe im Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, das Kind sei bei nicht genannten Krisenpflegeeltern untergebracht, noch keine weiteren Nachforschungen anstellen musste, weil sich daraus nur eine vorläufige Maßnahme und kein Hinweis auf die Begründung eines Pflegeelternverhältnisses iSd § 186 ABGB ergab.

 

Im Zuge der letztendlich mehr als einjährigen Dauer des Verfahrens wurde es jedoch schon allein durch den Zeitablauf offenkundig, dass die ursprüngliche Krisenunterbringung einer auf längere Dauer angelegten Eingliederung in eine Pflegefamilie gewichen sein musste. Die Bedeutung dieses Zeitfaktors ist im vorliegenden Fall unübersehbar, hat doch das im Alter von nur einem Monat der Mutter abgenommene Kind fast sein gesamtes bisheriges Leben in Fremdpflege verbracht, sodass jedenfalls mit einer engen Bindung iSd § 186 ABGB zu seinen Pflegeeltern zu rechnen war. Unter diesen Umständen war das Gericht spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung verpflichtet, sich beim Vertreter des Jugendwohlfahrtsträgers nach Ort und Umständen des bisherigen Aufenthalts des Kindes zu erkundigen, um sich ein Bild über die Pflegesituation und die Auswirkungen der beabsichtigten Änderung verschaffen zu können, mit dem Ergebnis, dass die Revisionsrekurswerber als bereits in erster Instanz (hinreichend) aktenkundige Parteien am Verfahren zu beteiligen gewesen wären.