30.08.2013 Zivilrecht

OGH: Verlassen der Radfahranlage zum Zwecke des Linksabbiegens und zum Verhältnis der Vorrangbestimmung des § 19 Abs 6a zu Abs 8 StVO

Dass der Erstbeklagte bei Fassung des Losfahrentschlusses die potentielle Vorrangsituation gegenüber dem die Radfahranlage verlassenden Kläger möglicherweise (noch) nicht wahrnehmen konnte, bedeutet nicht, dass er ab Wahrnehmbarkeit des Fahrmanövers des Klägers nicht verpflichtet gewesen wäre, sein Fahrzeug wiederum zum Stillstand zu bringen; umgekehrt wäre aber auch der Kläger im Hinblick auf seinen grundsätzlichen Nachrang gegenüber dem Fließverkehr bei Verlassen der Radfahranlage und der von ihm gewählten, den Linksabbiegevorgang erst durch seine Durchführung erkennbar machenden und damit besonders gefahrengeneigten Fahrweise ebenfalls zu besonderer Vorsicht gehalten gewesen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Radfahrer, Radfahranlage, Vorrang, Vorrangverzicht, Nebenfahrbahn, Nebenfahrbahn, Mitverschulden
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 19 StVO, § 1304 ABGB

GZ 2 Ob 239/12d, 14.03.2013

 

OGH: Der Vorrang bezieht sich - nach stRsp des erkennenden Senats - auf die gesamte Fahrbahn der bevorrangten Straße.

 

Der Kläger hat den Radweg und die daran anschließende Radfahrerüberfahrt, somit eine Radfahranlage iSd § 2 Abs 1 Z 11b StVO benutzt. Ein Radfahrer, der eine solche Radfahranlage verlässt, hat gem § 19 Abs 6a StVO anderen Fahrzeugen im Fließverkehr den Vorrang zu geben. Im fließenden Verkehr befindet sich ein Fahrzeug, das weder hält noch parkt, noch sich nach einem Halten oder Parken in den entsprechenden Fahrbahnteil einordnet, noch aus einer in § 19 Abs 6 StVO aufgezählten Verkehrsfläche kommt. Unter Halten ist nach § 2 Abs 1 Z 27 StVO eine nicht durch die Verkehrslage oder durch sonstige wichtige Umstände erzwungene Fahrtunterbrechung bis zu zehn Minuten oder für die Dauer der Durchführung einer Ladetätigkeit zu verstehen.

 

Das vor dem Schutzweg anhaltende Rettungsfahrzeug ist daher als im Fließverkehr befindlich und gegenüber dem die Radfahranlage verlassenden Kläger grundsätzlich bevorrangt anzusehen.

 

Allerdings ist weiters zu bedenken, dass nach § 19 Abs 8 Satz 2 StVO das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeugs, aus welchem Grund immer, insbesondere auch in Befolgung eines gesetzlichen Gebots, als Verzicht auf den Vorrang gilt.

 

Nach den Feststellungen setzte der Erstbeklagte das Rettungsfahrzeug „geringfügig“ nach dem Zeitpunkt, in dem der Kläger mit der Querung der Eggenberger Allee begonnen hatte, wieder in Bewegung (das Berufungsgericht beziffert diese Zeitdifferenz unter Hinweis auf das Sachverständigengutachten mit 0,3 sec).

 

Es mag daher der Gedanke des Berufungsgerichts einiges für sich haben, dass der Lenker des Rettungsfahrzeugs den Entschluss loszufahren davor - und somit in einem Zeitpunkt, in dem für ihn das Verlassen der Radfahranlage durch den Kläger noch nicht auffällig sein konnte - gefasst haben muss, sodass in diesem Zeitpunkt die Wahrnehmbarkeit dieses Vorgangs und damit eine Vorrangverletzung zumindest fraglich ist. Wesentlich ist aber die Feststellung des Erstgerichts, dass der Erstbeklagte auch nach seinem Wiederlosfahren - ebenso wie der Kläger selbst - unfallverhütend reagieren und vor der Unfallstelle anhalten hätte können.

 

Dass der Erstbeklagte bei Fassung des Losfahrentschlusses die potentielle Vorrangsituation gegenüber dem die Radfahranlage verlassenden Kläger möglicherweise (noch) nicht wahrnehmen konnte, bedeutet daher nicht, dass er ab Wahrnehmbarkeit des Fahrmanövers des Klägers nicht verpflichtet gewesen wäre, sein Fahrzeug wiederum zum Stillstand zu bringen.

 

Umgekehrt wäre aber auch der Kläger im Hinblick auf seinen grundsätzlichen Nachrang gegenüber dem Fließverkehr bei Verlassen der Radfahranlage und der von ihm gewählten, den Linksabbiegevorgang erst durch seine Durchführung erkennbar machenden und damit besonders gefahrengeneigten Fahrweise ebenfalls zu besonderer Vorsicht gehalten gewesen. Auch ihm wäre es nach den Feststellungen möglich gewesen, auf das Losfahren des Rettungsfahrzeugs rechtzeitig unfallverhütend zu reagieren.

 

Angesichts der schwierig zu beurteilenden Vorrangsituation waren beide Lenker zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet, was sie beide außer Acht ließen, sodass nach Ansicht des erkennenden Senats im konkreten Fall eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1 angemessen ist.