20.07.2015 Verfahrensrecht

OGH: Postalische Zustellung / Zustellung im Rahmen des ERV – Ungleichbehandlung iZm Beginn und Lauf der Frist

Der OGH stellt gem Art 89 Abs 2 B-VG (Art 140 B-VG) an den VfGH den Antrag, § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012 und § 125 Abs 1, § 126 Abs 1 ZPO (letzterer idF BGBl 30/2012) als verfassungswidrig aufzuheben


Schlagworte: Zustellung, Post, ERV, postalische Zustellung, Zustellung im Rahmen des ERV, Beginn und Lauf der Frist
Gesetze:

 

§ 69d GOG, § 125 ZPO, § 126 ZPO, Art 6 EMRK, Art 7 B-VG, Art 2 StGG

 

GZ 6 Ob 73/15a, 27.05.2015

 

OGH: Den Grundsatz, dass es sowohl bei postalischer als auch bei Zustellung im ERV auf die tatsächliche Verfügbarkeit der Sendung für den Empfänger ankommt und so die von den Verfahrensgesetzen vorgesehenen Fristen allen Empfängern in annähernd gleichem Ausmaß zur Verfügung stehen, hat § 89d Abs 2 GOG zu Lasten jener Empfänger, denen nicht im ERV zugestellt wird, aufgegeben. Ungeachtet dessen, dass der Empfänger, dem am Freitag im ERV zugestellt wurde, jedenfalls bereits ab Samstag auf das Dokument zugreifen kann, beginnen für ihn die verfahrensrechtlichen Fristen erst um 00:00 Uhr des darauffolgenden Dienstags zu laufen. Bei einer vierzehntägigen Frist, die im Übrigen in Verfahren außer Streitsachen ebenso die Regel ist wie in Exekutions- und Insolvenzverfahren, bedeuten die gewonnenen drei Tage (Samstag, Sonntag und Montag) eine Fristverlängerung um über 20 %.

 

Die dem § 89d Abs 2 GOG möglicherweise zugrundeliegende Überlegung des Gesetzgebers, bei einer Zustellung im ERV nach dem Ende der üblichen Geschäftszeiten am Freitag könnte der Empfänger nicht (mehr) auf das Dokument zugreifen, geht an den Lebensrealitäten vorbei und ist deshalb verfehlt. Frauenberger-Pfeiler/Schmon haben bereits darauf hingewiesen, dass der Zugriff auf elektronische Zustellungen quasi schon von überall aus möglich ist. Es entspricht auch den Lebensrealitäten, dass heute praktisch jeder Rechtsanwalt und jeder Notar über Smartphone oder Tablett mit dem Server seiner Kanzlei online verbunden ist. Die Überlegungen der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vom 16. 12. 2014 zum - zwischenzeitig zurückgewiesenen - ersten Antrag des OGH, bei einer „Durchschnittsbetrachtung“ könne nicht davon ausgegangen werden, dass Rechtsanwälte und Notare mit den Servern ihrer Kanzleien verbunden seien, entsprechen nicht den Lebensrealitäten. Im Übrigen geht es nicht um die Frage, ob der einzelne Rechtsanwalt oder Notar tatsächlich ständig, also auch an Nichtwerktagen, seine ERV-Zustellungen abruft; maßgeblich ist sein diesbezügliches Können, das ihn etwa vom Empfänger von postalisch hinterlegten Sendungen unterscheidet.

 

Jedenfalls vermögen alle Überlegungen zu den technischen Unterschieden zwischen einer postalischen Zustellung und einer Zustellung im Rahmen des ERV nicht zu erklären, warum zwar bei der postalischen Zustellung nach § 126 Abs 1 ZPO der Beginn und Lauf einer Frist durch Samstage nicht behindert wird, wohl aber bei der Zustellung im Rahmen des ERV. Die Ausführungen der Bundesregierung im Vorverfahren, dass doch bei einem berufsmäßigen Parteienvertreter, an den im Rahmen des ERV zugestellt wird, nicht erwartet werden könne, dass dieser auch am Samstag diese zur Kenntnis nehme und reagiere, macht die Ungleichbehandlung zwischen vertretenen und unvertretenen Parteien eines Verfahrens noch zusätzlich deutlich. Bedarf doch gerade die unvertretene Partei nach einer Zustellung häufig der Unterstützung durch einen berufsmäßigen Parteienvertreter, dem für die Reaktion auf die zugestellte Entscheidung dann aber wesentlich weniger Zeit zur Verfügung steht als dem Vertreter der anderen Partei, an den bereits die Zustellung im Rahmen des ERV erfolgt ist.