08.02.2016 Wirtschaftsrecht

OGH: Zum „Gegenantragsverfahren“ im Vergaberecht

War es der Auftraggeberin mangels Feststellungsverfahrens nicht möglich, einen Gegenantrag auf Feststellung der fehlenden echten Chance des Teilnehmers zu stellen, so ist ihr der Einwand der „fehlenden echten Chance“ im Gerichtsverfahren nicht von vornherein verwehrt


Schlagworte: Vergaberecht, übergangener Bieter, Widerruf, Feststellungsverfahren, Gegenantrag, „echte Chance“
Gesetze:

 

§§ 320 ff BVergG 2006, § 337 BVerG 2006, § 341 BVergG 2006, § 190 ZPO, RL 89/665/EWG

 

GZ 3 Ob 172/15p, 16.12.2015

 

OGH: Die Gerichte sind über die spezielle Vorschrift des § 341 Abs 2 letzter Satz BVergG 2006 hinaus generell an den Spruch eines rechtskräftigen (rechtsgestaltenden) Bescheids einer Verwaltungsbehörde gebunden. Von dieser Bindung ist lediglich die auf einen bestimmten Sachverhalt gestützte Beurteilung der Rechtsfrage (in der Begründung) nicht umfasst. Wurde nach dem Spruch des im Nachprüfungsverfahren (§§ 320 ff BVergG 2006) erwirkten Bescheids die Entscheidung der Auftraggeberin, Teilnehmer einer Ausschreibung nicht zur Teilnahme am anschließenden Verhandlungsverfahren zuzulassen, ebenso für nichtig erklärt wie die Zuweisung des Preisgeldes an die Gewinner eines Wettbewerbs, so steht die Rechtswidrigkeit der Nichtzulassung und damit ein hinreichend qualifizierter Verstoß iSd § 341 Abs 3 BVergG 2006 als Ursache für den rechtmäßigen Widerruf des Wettbewerbs für das Gerichtsverfahren bindend fest.

 

§ 337 BVergG 2006 regelt einen Ersatzanspruch eigener Art, aufgrund dessen eine erweiterte Haftung des Auftraggebers insofern besteht, als das Erfordernis der Kausalität iSd allgemeinen Schadenersatzrechts zwischen dem Verstoß gegen eine Vergabevorschrift und dem eingetretenen Schaden nicht besteht bzw immer schon dann erfüllt ist, wenn die Vergabekontrollbehörde nicht auf Antrag des Auftraggebers feststellt, dass der Bieter keine echte Chance auf die Zuschlagserteilung hatte. Die Funktion dieses „Gegenantragsverfahrens“ besteht in einer - die Effektivität des unionsrechtlich gebotenen schadenersatzrechtlichen Schutzes der Bewerber und Bieter sichernden - Beweiserleichterung für den Nachweis der Kausalität. Der übergangene Bewerber oder Bieter wird für den Ersatz des frustrierten Beteiligungsaufwands von der Last des idR kaum zu führenden Beweises entbunden, dass er bei korrektem Vorgehen den Zuschlag erhalten hätte.

 

War es der Auftraggeberin in der Konstellation des § 341 Abs 3 BVergG 2006 mangels Feststellungsverfahrens nicht möglich, einen Gegenantrag auf Feststellung der fehlenden echten Chance des Teilnehmers iSd § 337 Abs 2 BVergG 2006 zu stellen so ist ihr der Einwand der fehlenden echten Chance im Gerichtsverfahren nicht von vornherein verwehrt. Vielmehr darf sie sich darauf berufen, dass der übergangene Bieter bzw Bewerber aus (konkret zu bezeichnenden) formellen Gründen, etwa wegen Nichterfüllung rechtmäßiger Ausschreibungsbedingungen, von vornherein - also auch ohne den Vergaberechtsverstoß - keine echte Chance gehabt hätte.