20.06.2016 Zivilrecht

OGH: § 93 StVO und zur Frage, ob sich die Anrainerpflichten auch auf im Zuge von Gehsteigen und Gehwegen befindliche Brücken beziehen

Sollten die Beklagten die Anrainerpflichten nach § 93 Abs 1 StVO auch auf der Brücke wahrzunehmen haben, war die Unterlassung der Streuung, die zum Unfall der Klägerin führte, infolge der außergewöhnlichen Witterungsverhältnisse dennoch nicht rechtswidrig; stündliche Streuung war den Beklagten unter den gegebenen Umständen nicht zumutbar; auf die Rechtsfrage, ob sich die Beklagten auch auf die für unverbaute land- und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften in § 93 Abs 1 StVO enthaltene Ausnahmeregelung berufen könnten, kommt es nicht entscheidend an


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Pflichten der Anrainer, Gehsteig, Straße, Brücke, Schneeräumung, Streuung, außergewöhnliche Witterungsverhältnisse, Zumutbarkeit, land- und forstwirtschaftliche Nutzung
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 93 StVO, § 2 StVO

 

GZ 2 Ob 211/15s, 25.05.2016

 

OGH: Die Streupflicht nach § 93 Abs 1 Satz 1 StVO bezieht sich auf „Gehsteige und Gehwege einschließlich der in ihrem Zuge befindlichen Stiegenanlagen“, die in einer Entfernung von nicht mehr als 3 m entlang einer Liegenschaft vorhanden sind und dem öffentlichen Verkehr dienen. Ein „Gehsteig“ ist nach § 2 Abs 1 Z 10 StVO ein „für den Fußgängerverkehr bestimmter, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dgl abgegrenzter Teil der Straße“. Eine Straße wird in § 2 Abs 1 Z 1 StVO als eine „für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen“ definiert. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass eine Brücke zu diesen baulichen Anlagen gehört und damit Teil der Straße ist. Auf dieser Grundlage ist aber auch ein „für den Fußgängerverkehr bestimmter, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dgl abgegrenzter Teil“ einer über eine Brücke führenden Straße ein „Gehsteig“ iSv § 2 Abs 1 Z 10 StVO und damit auch iSv § 93 Abs 1 StVO. Ein solcher Gehsteig lag im konkreten Fall weniger als 3 m vom - im Wesentlichen aus dem Bachbett bestehenden - Grundstück 22/78 der Beklagten entfernt. Gründe, warum allein wegen der Lage des Gehsteigs auf einer Brücke keine Streupflicht bestehen sollte, sind nach dem klaren Wortlaut des § 93 Abs 1 StVO iVm der Legaldefintion des § 2 Abs 1 Z 10 StVO nicht erkennbar.

 

Die in § 93 Abs 1 StVO enthaltene Ausnahmeregelung für die Eigentümer von unverbauten (nach dem damaligen Wortlaut) „land- und forstwirtschaftlichen Liegenschaften“ wurde mit der 10. StVO-Novelle, BGBl 1983/174, eingeführt. Seine aktuelle Fassung („land- und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften“) erhielt die Bestimmung durch die 20. StVO-Novelle, BGBl I 1998/92. Was unter „land- und forstwirtschaftlicher Nutzung“ zu verstehen ist, wird weder in § 93 noch in anderen Bestimmungen der StVO definiert. Auch in den Gesetzesmaterialien findet sich kein Hinweis dazu. Der OGH hat sich zu dieser Frage bisher noch nicht geäußert.

 

Aus den folgenden Erwägungen ist jedoch auch im vorliegenden Fall keine weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema erforderlich. Es kann vielmehr dahingestellt bleiben, ob sich die Beklagten hinsichtlich des Grundstücks 22/78 auf die erwähnte Ausnahmebestimmung berufen könnten. Denn auch wenn dies iSd Rechtsausführungen des Berufungsgerichts zu verneinen wäre und sie daher die Anrainerpflichten des § 93 Abs 1 StVO auch auf der Brücke träfen, würde dies unter den konkreten Umständen zu keiner Haftung der Beklagten für den von der Klägerin erlittenen Schaden führen.

 

Bei den Bestimmungen über die Streupflicht nach § 93 Abs 1 StVO handelt es sich um Schutznormen iSd § 1311 ABGB, deren Zweck im Schutz der die dort genannten Verkehrsflächen bestimmungsgemäß benützenden Fußgänger liegt. Unterstellt man, dass die erörterte Ausnahmeregelung für unverbaute land- und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften nicht zur Anwendung gelangt, so haben die Beklagten durch die Unterlassung der Räumung und Streuung des Gehsteigs auf der Brücke die Schutznorm des § 93 Abs 1 erster Satz StVO objektiv verletzt. Sie hatten daher zu beweisen, dass ihnen die objektive Übertretung der Schutznorm nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist. Es oblag ihnen daher auch der Beweis für ihre Behauptung, dass ihnen angesichts der am Unfallstag herrschenden Witterungsverhältnisse die Erfüllung einer Streupflicht nicht zumutbar war.

 

Durch die Vorschrift des § 93 Abs 1 StVO soll den erhöhten Gefahren bei Benützung vereister oder mit Schnee bedeckter Verkehrsflächen durch zumutbare Maßnahmen begegnet werden. Die Räum- und Streupflicht und ihr zumutbares Ausmaß werden im Einzelfall daher durch diesen Zweck bestimmt. Den Verpflichteten dürfen keine zwecklosen Maßnahmen abverlangt werden, ihr Aufwand muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Erreichung des Zieles stehen. Ein solches vernünftiges Verhältnis ist dann nicht gegeben, wenn der Aufwand nur zu einer unwesentlichen und ganz vorübergehenden Herabminderung der dem Verkehr drohenden Gefahren führen würde. In diesen Fällen, also wenn infolge außergewöhnlicher Witterungsverhältnisse durch Vornahme zumutbarer Maßnahmen der angestrebte Zweck nicht erreicht werden kann, besteht keine Säuberungs- oder Streupflicht. Den Beklagten könnte bei Bejahung dieser Voraussetzungen - jedenfalls zur Unfallszeit - kein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden. Auch wenn sie sonst ihrer (unterstellten) Streupflicht auf der Brücke regelmäßig nachgekommen wären, hätte dies den Sturz der Klägerin nicht verhindert. Die Unterlassung von Räum- und Streumaßnahmen wäre für den Sturz der Klägerin und den daraus resultierenden Verletzungsfolgen zwar kausal, nicht aber rechtswidrig gewesen.

 

Vor diesem Hintergrund vertritt der OGH in stRsp die Rechtsansicht, dass die Grenze der Zumutbarkeit der Räumungs- und Streupflicht dann überschritten wird, wenn bei andauerndem Schneefall oder sich ständig erneuerndem Glatteis das Räumen bzw Streuen mangels praktisch ins Gewicht fallender Wirkung für die Verkehrssicherheit nutzlos bleiben muss, weil dem zur Räumung und Streuung Verpflichteten eine ununterbrochene Schneeräumung und Sicherung der Verkehrswege nicht zugemutet werden kann.

 

Wo die Grenze der Zumutbarkeit liegt, bestimmt sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. In diesem Zusammenhang hat der OGH bereits ausgesprochen, dass die Unzumutbarkeit des Bestreuens des Gehsteigs nur in Ausnahmefällen anzunehmen und das Streuen in kurzen Intervallen an sich nicht unzumutbar ist. Nur wenn die völlige Zwecklosigkeit eines solchen Streuens in kürzeren Intervallen feststünde, wäre es nicht zumutbar. Völlige Zwecklosigkeit wurde etwa angenommen, wenn durch das Bestreuen die Rutschgefahr nur für etwa fünf bis zehn Minuten beseitigt werden könnte. Andererseits wurde bei ständiger Eisbildung infolge Eisregens das Bestreuen des Gehsteigs auch schon in kürzeren Abständen als einer Stunde als zumutbar erachtet. Dieser Fall war allerdings durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass sich der Unfall am Vormittag des 24. Dezember auf dem Hauptplatz eines größeren Fremdenverkehrsorts ereignet hatte, also zu einer Zeit, zu welcher mit einem Begehen der Gehsteige durch zahlreiche Fußgänger zu rechnen war. Auf diese Entscheidung verweisend gelangte der OGH in 2 Ob 2289/96y zu der Auffassung, der dort Beklagte habe seine Streupflicht (mit Rollsplitt) bei Bestreuung des Gehsteigs in dreiviertelstündigen Abständen jedenfalls erfüllt.

 

Eine auch für den vorliegenden Fall gültige Aussage ist aus diesen Entscheidungen nicht ableitbar. Umstände, wie sie für die Entscheidung 6 Ob 550/80 ausschlaggebend waren, lagen hier nicht vor. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen trat am Unfallstag sich ständig erneuerndes Glatteis auf, die Wirksamkeit herkömmlichen Streumaterials wurde rasch deutlich herabgesetzt. Ab 12:00 Uhr hätte auf dem Gehsteig der Brücke mit Salz gestreut und die Streuung dann etwa dreiviertelstündlich bis stündlich erneuert werden müssen, um einen wirksamen Schutz vor der Glätte zu erzielen. Nach der erörterten Beweislastverteilung ist zwar zu Lasten der Beklagten vom Erfordernis (bloß) stündlicher Erneuerung auszugehen. Bedenkt man, dass die Beklagten auch noch die an ihre Wohnliegenschaft angrenzenden Flächen zu bestreuen gehabt hätten, kommt dies aber praktisch einer Pflicht zur ununterbrochenen Bestreuung gleich, wie sie in der Rsp - mit Ausnahme besonderer Umstände - im Regelfall als unzumutbar erachtet wird (vgl auch Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 93 Rz 21, denen zufolge den Anrainern das Streuen in kürzeren Abständen als ein bis zwei Stunden „nach allgemeiner Erfahrung“ nicht zumutbar ist). Davon ausgehend ist den Beklagten der ihnen obliegende Entlastungsbeweis gelungen.