30.04.2018 Zivilrecht

OGH: Motorradunfall – Minderung des Schmerzengeldes bei unterlassenem Gebrauch einer Motorradschutzkleidung im Ortsgebiet ?

Nach Auffassung des Senats sind die für eine Ausweitung des „Schutzkleidungsmitverschuldens“ sprechenden Argumente gravierender als die Gegenargumente; den im Ortsgebiet geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen kommt keine für eine Differenzierung entscheidende Bedeutung zu; der Senat vertritt daher die Ansicht, dass in Bezug auf Motorräder eine Differenzierung zwischen städtischem und kurzem Überlandverkehr beim Tragen adäquater Schutzkleidung nicht angemessen ist, sondern die Grundsätze der E 2 Ob 119/15m auch auf den vorliegenden Fall zu übertragen sind


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Motorradunfall, keine Schutzkleidung im Ort, Minderung des Schmerzengeldes
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1325 ABGB

 

GZ 2 Ob 44/17k, 27.02.2018

 

OGH: Nach wie vor gibt es keine gesetzliche Norm, die beim Motorradfahren das Tragen von Schutzkleidung (abgesehen vom Sturzhelm: § 106 Abs 7 KFG) vorschreibt. Allein darauf ist aber nicht abzustellen.

 

Der Vorwurf eines „Mitverschuldens“ bei der Unterlassung von Schutzmaßnahmen zur eigenen Sicherheit ist nach der Rsp nämlich auch dann begründet, wenn sich bereits ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise dahin gebildet hat, dass jeder Einsichtige und Vernünftige solche Schutzmaßnahmen anzuwenden pflegt. Dann ist einem „einsichtigen und vernünftigen“ Fahrer zuzumuten, die Eigengefährdung möglichst gering zu halten, und daher eine adäquate Schutzkleidung zu erwarten bzw umgekehrt Fahrern, die dieses erhebliche zusätzliche Verletzungsrisiko dennoch eingehen, ein „Mitverschulden“ anzulasten.

 

In der E 2 Ob 119/15m hat der Senat unter ausführlicher Darstellung der (vorwiegend) deutschen Judikatur und der Lehre im Fall einer kurzen Überlandfahrt angesichts der dort zulässig erreichten bzw erreichbaren hohen Geschwindigkeiten ein solches Bewusstsein in Bezug auf das Tragen von Motorradschutzkleidung als sachgerecht angenommen.

 

Diese Entscheidung wurde in der Literatur überwiegend positiv, teilweise referierend und teilweise ablehnend aufgenommen (Wallner, Bewusstsein ersetzt Gesetze? Anwalt aktuell 2015, 20 f). Der Kritik des letztgenannten Autors ist mit Wilhelm entgegen zu halten, dass das Recht auch den Schädiger zur Sorgfalt gegenüber Dritten beruft, ohne dass diese durch Schutzgesetze konkretisiert wird, wie zB bei den vorvertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten oder beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Auch nach Karner (Radhelmpflicht nur für erwachsene „sportlich ambitionierte Radfahrer“, nicht aber allgemein, ZVR 2014/218, 391 [EAnm]), der dazu auf Koziol (Die Mitverantwortung des Geschädigten im Wandel der Zeit, FS Hausmaninger [2016] 139 ff), verweist, ist es nicht argumentierbar, dem Einzelnen zwar immer strengere Sorgfaltspflichten gegenüber anderen aufzuerlegen, die Obliegenheit, Sorgfalt gegenüber seinen eigenen Gütern anzuwenden, hingegen zunehmend abzubauen. Es geht dabei nicht darum, dem Einzelnen Freiheiten zu nehmen, sondern um die Abwägung der Frage, wie das damit eingegangene Risiko zu verteilen ist und inwieweit es von demjenigen, der sich für das Eingehen eines erhöhten Verletzungsrisikos entschieden hat, auf seinen Schädiger abgewälzt werden kann.

 

Die E 2 Ob 119/15m ist daher fortzuschreiben und darüber hinaus zu fragen, ob ihre Grundsätze auch auf den Motorradverkehr im Ortsgebiet anzuwenden sind:

 

Bereits die in 2 Ob 119/15m zitierte Onlinebefragung des Kuratoriums für Verkehrssicherheit vom September 2008 ergab in der Frage des Tragens von Schutzkleidung im Ortsgebiet und auf kurzen Überlandstücken zwar einen Unterschied, allerdings keinen so signifikanten, dass von einem unterschiedlichen Bewusstsein der beteiligten Verkehrskreise in Bezug auf das Tragen von Schutzkleidung in und außerhalb des Ortsgebiets gesprochen werden könnte. Die wesentlich größeren Unterschiede zeigten sich bei dieser Befragung, aber auch in einer jüngeren veröffentlichten Erhebung (Knowles/Pommer/Winkelbauer/ Schneider, Motorradunfallgeschehen im urbanen Bereich Betrachtungen von Motorradunfällen mit Pkw-Beteiligung aus unterschiedlichen Perspektiven, ZVR 2017/63, 146 [151]) bei der Tragehäufigkeit einzelner Komponenten der Schutzkleidung und in der Verwendung von Schutzkleidung durch Motorradfahrer einerseits und Motorrollerbenutzer andererseits.

 

Gegen eine Anwendung der Grundsätze der E 2 Ob 119/15m auf den Motorradverkehr im Ortsgebiet spricht, dass allgemein im Ortsgebiet – zumindest erlaubter Weise – geringere Geschwindigkeiten erreicht werden, und dass das Tragen von Schutzkleidung im urbanen Bereich, wenn das Motorrad eher als reines Verkehrsmittel als für Freizeitfahrten verwendet wird und tendenziell eher kürzere Strecken zurückgelegt werden, „unpraktischer“ ist und einen relativ gesehen größeren Aufwand macht.

 

Für die Übertragung der Rsp zum Tragen von Schutzkleidung bei Motorradfahrten auch im Ortsgebiet spricht jedoch, dass Motorräder aufgrund ihrer Motorleistung im Verhältnis zu ihrem Gewicht eine spezifisch starke Beschleunigung erreichen können, die gerade im urbanen Gebiet ein besonderes Risiko darstellt. Überdies herrscht im Ortsgebiet tendenziell ein größeres und dichteres Verkehrsaufkommen, womit ebenfalls eine Gefahrenerhöhung einhergeht. Zu bedenken ist weiter, dass Motorräder bei geringeren Geschwindigkeiten und wegen ihres Gewichts instabiler und unhandlicher sind, leichter kippen können und unbeweglicher sind als zB Motorroller.

 

Nach Auffassung des Senats sind die für eine Ausweitung des „Schutzkleidungsmitverschuldens“ sprechenden Argumente gravierender als die Gegenargumente: Den im Ortsgebiet geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen kommt aus den dargelegten Gründen keine für eine Differenzierung entscheidende Bedeutung zu. Gerade der vorliegende Fall belegt im Übrigen exemplarisch, dass das Tragen von Schutzkleidung auch bei geringeren Geschwindigkeiten geeignet ist, Schäden zu verringern. Der Senat vertritt daher die Ansicht, dass in Bezug auf Motorräder eine Differenzierung zwischen städtischem und kurzem Überlandverkehr beim Tragen adäquater Schutzkleidung nicht angemessen ist, sondern die Grundsätze der E 2 Ob 119/15m auch auf den vorliegenden Fall zu übertragen sind.

 

Dass damit die Wahlfreiheit des Einzelnen über das Gesetz hinaus eingeschränkt würde, ist – wie nochmals zu betonen ist – unrichtig, weil mit der vorliegenden Entscheidung keine Verpflichtung zum Tragen von Motorradschutzkleidung statuiert, sondern lediglich die Frage geklärt wird, wie das durch das Nichttragen von Schutzkleidung zusätzlich eingegangene Risiko im Fall eines tatsächlichen Unfalls zwischen Schädiger und Geschädigtem aufzuteilen ist.

 

Rechnerisch ist das Schmerzengeld des Klägers nach der im Revisionsverfahren nicht strittigen Berechnungsmethode des Erstgerichts zu kürzen, wobei – den Berechnungen der Revision folgend – der Rechenfehler des Erstgerichts zu korrigieren war. Daraus ergibt sich ein Zuspruch an Schmerzengeld von 35.000 EUR und in Abänderung der berufungsgerichtlichen Entscheidung die Abweisung eines Mehrbegehrens von 8.000 EUR. Die Abweisung eines weiteren Mehrbegehrens von 7.706 EUR durch das Berufungsgericht blieb unbekämpft.

 

Die Revision bezweifelt grundsätzlich nicht, dass die übrigen vom Kläger geltend gemachten Ansprüche von der Kürzung nicht betroffen sind. Sie will lediglich – iSd erstgerichtlichen Berechnungsmethode – eine Kürzung auch der Verunstaltungsentschädigung (2.250 EUR statt 3.000 EUR) erreichen, setzt sich inhaltlich aber nicht mit der Rsp auseinander, die eine Kürzung nur für das Schmerzengeld bejaht.

 

Die der Höhe nach unstrittigen übrigen Positionen stehen mangels Auslösungsmitverschuldens des Klägers ungekürzt zu, somit iHv 28.072,21 EUR. Unter Abzug der unstrittig geleisteten Akontozahlungen von 35.000 EUR ergibt das den Zuspruch von 31.072,10 EUR.