19.03.2019 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, in welchem Ausmaß Sozialleistungen „bei einer wrongful birth“ anrechenbar sind

Soweit das Kind aus dem ihm zukommenden Pflegegeld seinen Pflegeaufwand selbst finanzieren kann, besteht keine entsprechende Verpflichtung der Eltern; damit entsteht aber in diesem Umfang den Eltern mangels Verpflichtung, diesen mit dem Pflegegeld finanzierbaren Pflegeaufwand zu leisten, kein Schaden; dass die Familienbeihilfe auch zu dem Zweck erbracht wird, einen Schädiger, der – wie im vorliegenden Fall im Verhältnis zu den Eltern – aufgrund einer rechtswidrigen und schuldhaften Vertragsverletzung zum Ersatz des gesamten Unterhalts- und Pflegeaufwands verpflichtet ist, von seiner Verpflichtung teilweise zu befreien (weil die Behinderung des Kindes nicht durch einen ärztlichen Eingriff oder Behandlungsfehler selbst verursacht wurde), kann dem Gesetzgeber des FLAG nicht unterstellt werden


Schlagworte: Schadenersatzrecht, wrongful birth, Sozialleistungen, Pflegegeld, erhöhte Familienbeihilfe
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, BPGG, FLAG

 

GZ 1 Ob 203/18m, 23.01.2019

 

OGH: Den Umstand, dass sie den Eltern gegenüber aufgrund eines rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens für „alle künftigen Aufwendungen, Pflegeleistungen und sonstigen Vermögensnachteile, die mit der Obsorge, Pflege und Erziehung“ deren Kindes „in Zusammenhang stehen“ und sie für die bis dahin konkretisierten Geldforderungen dem Grunde nach haften, ziehen die Beklagten ebensowenig in Zweifel, wie die Bemessung ihres Pflegeaufwands in Geld. Sie und die klagenden Eltern stehen für diesen (gesamten) Aufwand (als Schaden) im Verhältnis von Schädigern und Geschädigten zueinander. Ebenso ist unstrittig, dass die Eltern ihr Kind tatsächlich pflegten und versorgten; es geht im Revisionsverfahren, so wie schon im Berufungsverfahren, also allein um die Berücksichtigung der Familienbeihilfe und des Pflegegeldes bei der Ausmittlung der Höhe der Ersatzansprüche.

 

Sozial-(versicherungs-)leistungen dienen der Deckung eines bestimmten Bedarfs, und zwar im Allgemeinen unabhängig davon, ob dieser Bedarf durch einen Schädiger herbeigeführt wurde oder nicht und ob der Schädiger zur Ausgleichung dieser Situation durch Schadenersatzleistungen verpflichtet ist (oder ob er diese überhaupt leisten kann); die Entlastung eines Schädigers wird mit ihnen idR nicht bezweckt (sondern die Begünstigung des Beziehers).

 

Zum Pflegegeld:

 

Das Pflegegeld gemäß dem BPGG dient der Finanzierung von Pflegeleistungen (Personalaufwand) und hat den Zweck, pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen (§ 1 BPGG).

 

Anspruchsberechtigt ist im vorliegenden Fall das Kind selbst, dessen Trisomie 21 nicht durch die Beklagten verursacht wurde. Die Geschädigten sind (allein) die Eltern. Der vorliegende Fall ist also nicht mit jenen Konstellationen vergleichbar, in denen eine bloße Schadensverlagerung bzw Schadensüberwälzung angenommen wurde.

 

Soweit nun das Kind aus dem ihm zukommenden Pflegegeld seinen Pflegeaufwand selbst finanzieren kann, besteht keine entsprechende Verpflichtung der Eltern. Damit entsteht aber in diesem Umfang den Eltern mangels Verpflichtung, diesen mit dem Pflegegeld finanzierbaren Pflegeaufwand zu leisten, kein Schaden.

 

Zur Familienbeihilfe:

 

Im Gegensatz zum Pflegegeld, bei dem das Kind anspruchsberechtigt ist, gilt die Familienbeihilfe (kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung in § 12a FLAG) „nicht als eigenes Einkommen des Kindes und mindert nicht dessen Unterhaltsanspruch“. Sie ist ein (nach den Feststellungen) „den Eltern“ (tatsächlich wohl nur einem Elternteil: §§ 2 Abs 2 Satz 1, 2a FLAG) wegen des Kindes vom Staat zugewendeter „Vorteil“. Für die Frage, ob auf den (Wert-)Ersatz für den von den Eltern dem Kind gegenüber zu leistenden – und aus eigenem Vermögen zu finanzierenden – (Sach-, Geld- oder Pflege-)Aufwand Zuwendungen Dritter im Rahmen der Vorteilsausgleichung anzurechnen sind, kommt es nach hRsp – weil sich dabei eine teleologische Betrachtungsweise durchgesetzt hat – auf die Art des erlangten Vorteils und den Zweck der Leistung des Dritten an. Die Anrechnung soll nicht zu einer unbilligen Entlastung des Schädigers führen und wird verneint, wenn der Dritte die Leistung nicht in der Absicht erbringt, einen Schädiger zu entlasten.

 

Anders als das Pflegegeld, das der Finanzierung des pflegebedingten Mehraufwands dient, soll die Familienbeihilfe nach § 1 FLAG einen Lastenausgleich im Interesse der Familie herbeiführen. Sie dient dem Zweck, die Pflege und Erziehung des Kindes (als Zuschuss) zu erleichtern sowie die mit dessen Betreuung verbundenen Mehrbelastungen – zumindest zum Teil – auszugleichen. Weiters kommt ihr (gemeinsam mit dem mit ihr zur Auszahlung gelangenden Kinderabsetzbetrag gem § 33 Abs 3 EStG) auch die Funktion zu, jene einkommensteuerliche Mehrbelastung abzugelten, der unterhaltspflichtige Eltern durch die steuerliche Nichtabzugsfähigkeit des Unterhalts ausgesetzt sind.

 

Zur Frage, ob mit der erhöhten Familienbeihilfe ein Schädiger (damals eines aufgrund eines Behandlungsfehlers geschädigten Kindes) entlastet werden soll, hat der OGH in seiner E zu 8 Ob 27/09t ausführlich Stellung genommen und dargelegt, warum diese Leistung nicht im Rahmen einer Vorteilsausgleichung auf Ansprüche des Kindes anzurechnen ist. Der 8. Senat erläuterte, dass die erhöhte Familienbeihilfe im Hinblick auf eine bestimmte durch das schädigende Ereignis ausgelöste soziale Situation gewährt werde, bei der grundsätzlich davon auszugehen sei, dass sie der Dritte unabhängig vom Ausmaß eines Schadenersatzanspruchs des Geschädigten und zusätzlich zu diesem zuwenden wolle. Gleichzeitig betonte er, dass es im Hinblick auf den Verwendungszweck der Familienbeihilfe – auch wenn sie erhöht bezahlt werde – ohne Bedeutung sei, ob der Ersatzanspruch vom Geschädigten selbst oder von jenen Personen geltend gemacht wird, die die Pflegeleistungen erbringen. Diese Entscheidung erfuhr in der Literatur keine Kritik.

 

In manchen Fällen, in denen durch Sozial-(versicherungs-)leistungen eine faktisch doppelte (wertmäßige) Abdeckung desselben Aufwands des Geschädigten erreicht würde (womit hier die geschädigten Eltern nach der Diktion der Erstbeklagten „ungerechtfertigt bereichert“ wären), vermeidet der Gesetzgeber ein solches Ergebnis dadurch, dass er den leistenden (oder zur Zahlung verpflichteten) Dritten mittels Legalzession in den – insoweit bereits durch ihn gedeckten (oder zu deckenden) – Anspruch des Geschädigten gegenüber dem Schädiger eintreten lässt. Dem Geschädigten fehlt in solchen Fällen – wegen des Rechtsübergangs – die Aktivlegitimation zur Geltendmachung dieses Anspruchs(-teils). Der Schädiger hat aber – gleich ob der Gesetzgeber eine Legalzession vorsieht oder nicht (wie etwa für die Familienbeihilfe) – immer den gesamten Schaden zu ersetzen, wenn die Leistung des Dritten nicht seiner Entlastung dienen soll oder eine solche Entlastung vom Leistenden zumindest nicht in Kauf genommen werden will. Dass die Familienbeihilfe auch zu dem Zweck erbracht wird, einen Schädiger, der – wie im vorliegenden Fall im Verhältnis zu den Eltern – aufgrund einer rechtswidrigen und schuldhaften Vertragsverletzung zum Ersatz des gesamten Unterhalts- und Pflegeaufwands verpflichtet ist, von seiner Verpflichtung teilweise zu befreien (weil die Behinderung des Kindes nicht durch einen ärztlichen Eingriff oder Behandlungsfehler selbst verursacht wurde), kann dem Gesetzgeber des FLAG angesichts der zuvor dargestellten Ziele dieser staatlichen Leistung nicht unterstellt werden.

 

Der mit den Urteilen der Vorinstanzen erfolgte Zuspruch ist daher (nur) um die Höhe des erhaltenen Pflegegeldes von 920 EUR zu verringern, besteht doch dieser Teil der am 26. 4. 2017 erfolgten Ausdehnung des Klagebegehrens nicht zu Recht.