24.09.2019 Zivilrecht

OGH: Fahrstreifenwechsel und Reißverschlusssystem – zum Verhältnis zwischen § 11 Abs 1 und § 11 Abs 5 StVO

Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs ist seiner in § 11 Abs 5 StVO verankerten Verpflichtung, dem Kläger einen Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen, nicht nachgekommen; er hat das Verkehrsgeschehen vor seinem Fahrzeug nicht beobachtet, was nur mit grober Unaufmerksamkeit erklärbar ist; demgegenüber hat der Kläger zwar zweimal in den Rückspiegel geblickt, dabei aber die Möglichkeit eines Fahrstreifenwechsels unrichtig eingeschätzt; auch er hat daher aufgrund des nur 1,5 Sekunden vor dem Eintreffen des Beklagtenfahrzeugs durchgeführten Fahrstreifenwechsels eine gefährliche Fahrweise zu verantworten, die gegen § 11 Abs 1 StVO verstieß; bei Gegenüberstellung des beiderseitigen Fehlverhaltens ist angesichts der konkreten Umstände des Falles eine Verschuldensteilung von 1:2 zu Lasten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs angemessen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Fahrstreifenwechsel, Reißverschlusssystem, Mitverschulden
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 11 StVO, § 1304 ABGB

 

GZ 2 Ob 48/19a, 25.07.2019

 

OGH: Reißverschlusssystem:

 

Gem § 11 Abs 5 StVO ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Wechsel auf den zunächst gelegenen verbleibenden Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass diese Fahrzeuge jeweils im Wechsel einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug nachfolgen können, wenn auf Straßen mit mehr als einem Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder nicht zulässig ist oder ein Fahrstreifen endet (Reißverschlusssystem).

 

Die Anwendbarkeit des Reißverschlusssystems setzt Kolonnenverkehr voraus, wobei bereits je zwei Fahrzeuge genügen. In den Feststellungen des Erstgerichts sind das Klags- und das Beklagtenfahrzeug erwähnt sowie die jeweils vor diesen fahrenden Fahrzeuge. Es lag daher Kolonnenverkehr iSd § 11 Abs 5 StVO vor. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hätte somit dem Kläger den Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen gehabt. Ihm liegt zur Last, dass er dieser Verpflichtung nicht nachkam, weil er das Verkehrsgeschehen vor sich nicht ausreichend beobachtet und den Fahrstreifenwechsel des Klägers gar nicht wahrgenommen hat.

 

Fahrstreifenwechsel:

 

Gem § 11 Abs 1 StVO darf der Lenker eines Fahrzeugs die Fahrtrichtung nur ändern oder den Fahrstreifen wechseln, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist.

 

Eine solche Behinderung liegt bereits dann vor, wenn ein nachkommendes Fahrzeug zum Bremsen oder Auslenken genötigt wird. Die Pflicht, sich von der Gefahrlosigkeit des beabsichtigten Fahrstreifenwechsels zu überzeugen, besteht unabhängig davon, ob sich die bei Bedachtnahme auf alle gegebenen Möglichkeiten in Betracht kommenden Verkehrsteilnehmer ihrerseits richtig verhalten oder nicht.

 

Da durch die Einführung des § 11 Abs 5 StVO mit der 10. StVO-Novelle (BGBl 1983/174) die übrigen Bestimmungen des § 11 StVO unverändert blieben, entbindet diese Regelung den vom blockierten Fahrstreifen auf den freien Fahrstreifen wechselnden Lenker nicht von den Pflichten nach § 11 Abs 1 StVO. Ein solcher Lenker hat sich insbesondere zu überzeugen, ob der auf dem durchgehend befahrbaren Fahrstreifen Fahrende ihm das Einordnen ermöglicht. Ist Letzteres nicht der Fall, darf er den Fahrstreifen nicht wechseln.

 

Im vorliegenden Fall ereignete sich die Kollision in Form eines streifenden Kontakts bereits 1,5 Sekunden nach Beginn des Linkszugs des Klagsfahrzeugs. Dies indiziert, dass der Kläger sich nicht ausreichend davon überzeugt hatte, ob der Lenker des Beklagtenfahrzeugs ihm den Fahrstreifenwechsel ermöglichen werde, zumal das Beklagtenfahrzeug schon bei Setzen des linken Blinkers durch den Kläger nur 6 m entfernt war und dessen Lenker die Kollision nur mit einem Bremsmanöver hätte verhindern können. Auch den Kläger trifft daher ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls.

 

Verschuldensabwägung:

 

Bei der Aufteilung des Verschuldens entscheidet va der Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften für die Sicherheit des Verkehrs im Allgemeinen und im konkreten Fall.

 

Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs ist seiner in § 11 Abs 5 StVO verankerten Verpflichtung, dem Kläger einen Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen, nicht nachgekommen. Er hat das Verkehrsgeschehen vor seinem Fahrzeug nicht beobachtet, was nur mit grober Unaufmerksamkeit erklärbar ist. Demgegenüber hat der Kläger zwar zweimal in den Rückspiegel geblickt, dabei aber die Möglichkeit eines Fahrstreifenwechsels unrichtig eingeschätzt. Auch er hat daher aufgrund des nur 1,5 Sekunden vor dem Eintreffen des Beklagtenfahrzeugs durchgeführten Fahrstreifenwechsels eine gefährliche Fahrweise zu verantworten, die gegen § 11 Abs 1 StVO verstieß. Bei Gegenüberstellung des beiderseitigen Fehlverhaltens ist angesichts der konkreten Umstände des Falles eine Verschuldensteilung von 1:2 zu Lasten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs angemessen.