06.07.2011 Zivilrecht

OGH: Mitverschulden des Fahrgastes iSd § 1304 ABGB iZm Aufstehen in einem Linienbus und Verletzung aufgrund Bremsmanövers?

Den stehenden, sich Halt verschaffenden Fahrgast trifft - ungeachtet des Grundes seines Stehens (anstatt Sitzens) im Bus - keine Mithaftung infolge Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten, wenn er durch eine Schnellbremsung losgerissen wird und zu Boden stürzt; im Übrigen ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn ein Fahrgast aufsteht, um seinem Sitznachbarn ein Passieren zu ermöglichen, und diesen nicht zwingt, sich an ihm vorbeizuzwängen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Mitverschulden, Aufstehen in Linienbus, Bremsmanöver
Gesetze:

§ 1304 ABGB

GZ 2 Ob 211/10h, 30.05.2011

 

Die Klägerin kam in einem Linienbus infolge eines Bremsmanövers des Buslenkers zu Sturz und verletzte sich dabei schwer. Sie hatte auf einem gangseitigen Sitz Platz genommen, war über Ersuchen ihrer Sitznachbarin, einer auf einem Fensterplatz sitzenden älteren Dame, sie aus dem Zwischenbereich zwischen den Sitzen heraus zu lassen, aufgestanden und hatte sich an der Reling über der Rücklehne des Vordersitzes mit der rechten Hand festgehalten, während sie mit der linken Hand ihre Einkaufs- und ihre Handtasche hielt. Die starke Bremsverzögerung beim Bremsvorgang war durch Körperkraft nicht ausgleichbar, der Sturz war daher für die Klägerin unabhängig vom Anhalten unvermeidbar. Nur in sitzender Position wäre die Sturzgefahr nicht gegeben gewesen.

 

OGH: Das Mitverschulden iSd § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinne voraus. Auch Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt. Dabei darf der anzulegende Sorgfaltsmaßstab nicht überspannt werden. Das Ausmaß eines allfälligen Mitverschuldens des Geschädigten kann wegen seiner Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden.

 

Die Beklagten stützen sich bei der Begründung des Mitverschuldens der Klägerin auf deutsche Rsp. In den von ihnen zitierten Entscheidungen ist zwar ua davon die Rede, dass sich der Fahrgast sicheren Halt zu verschaffen hat. Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass - nach Auffassung deutscher Gerichte - bereits jedes Aufstehen vom Sitzplatz eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten begründen würde (vgl etwa die ebenfalls von den Beklagten zitierte Entscheidung des OLG Hamm zu 13 U 29/98, wonach jedenfalls bei ausreichendem Festhalten einem Fahrgast deshalb nicht vorgeworfen werden könne, bei Annäherung an die Haltestelle seinen Sitzplatz verlassen und sich zur Tür begeben zu haben). Im Übrigen stellt § 502 Abs 1 ZPO nicht auf ausländische sondern auf die Rsp des OGH ab.

 

Der Senat hat zu 2 Ob 50/82 ein Mitverschulden des Verletzten (Vernachlässigung der ihm zumutbaren Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten) verneint, wenn ein Fahrgast einer Straßenbahn, der sich an der Haltestange festgehalten hat, durch eine Schnellbremsung der Straßenbahn losgerissen wird und zu Boden stürzt.

 

Gem § 11 der Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Kraftlinienverkehr, BGBl II Nr 47/2001, hat sich jeder Fahrgast im Fahrzeug dauernd festen Halt zu verschaffen. Schäden, die durch Außerachtlassen dieser Vorsichtsmaßnahme eintreten, hat der Fahrgast zu tragen.

 

Im vorliegenden Fall haben die Tatsacheninstanzen festgestellt, dass sich die Klägerin festgehalten hat. Sie hatte sich daher einen „festen Halt“ verschafft. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, wonach der stehenden, sich Halt verschaffenden Klägerin - ungeachtet des Grundes ihres Stehens (anstatt Sitzens) im Bus - keine Mithaftung infolge Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten treffe, ist daher vertretbar. Im Übrigen ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn ein Fahrgast in der festgestellten Situation aufsteht, um seinem Sitznachbarn ein Passieren zu ermöglichen, und diesen nicht zwingt, sich an ihm vorbeizuzwängen.