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24.01.2012 Zivilrecht

OGH: Recht auf Wahrung der Privatsphäre – Anspruch gem § 1328a ABGB iZm „Doktorspiel“ (welches hier noch keine „geschlechtliche Handlung“ iSv § 1328 ABGB darstellte)?

Wer einen Menschen ohne dessen Zustimmung entkleidet, am Bauch berührt und im Geschlechtsbereich betrachtet, greift schwerwiegend in dessen Intimsphäre ein, und zwar auch dann, wenn er damit die Schwelle zur „geschlechtlichen Handlung“ iSv § 1328 ABGB noch nicht überschritten haben sollte


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Recht auf Wahrung der Privatsphäre, Doktorspiel, Freispruch, geschlechtliche Handlung, Schmerzengeld
Gesetze:

§ 1328a ABGB, § 16 ABGB, § 1328 ABGB, § 1325 ABGB

GZ 4 Ob 200/11g [1], 20.12.2011

 

Der wegen sexuellen Missbrauchs von Unmündigen vorbestrafte Beklagte lud die damals 7½ Jahre alte Klägerin in seine Wohnung ein. Zuerst half er ihr bei den Hausaufgaben und spielte mit ihr Karten, dann überredete er sie zu einem „Doktorspiel“: Er zog ihr das Leibchen nach oben und die Hose nach unten, tastete ihren Bauch ab und legte sein Ohr darauf; dann hob er den Bund der Unterhose hoch und betrachtete kurz ihren Scheidenbereich. Anschließend kleidete er sie wieder an. Sie blieb noch einige Zeit in der Wohnung, dann schickte er sie wieder nach Hause.

 

Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Unmündigen (§ 207 StGB). Dass Strafgericht nahm lediglich den eingangs dargestellten Sachverhalt als erwiesen an und sprach den Beklagten auf dieser Grundlage mangels Vorliegens einer „geschlechtlichen Handlung“ frei.

 

Das Verhalten des Beklagten und die nachträgliche Aufarbeitung des Geschehens haben das Kind psychisch belastet. Es litt über zwei Jahre an Ängstlichkeit iZm Träumen, Störungen des Affekts, Rückzug, Vermeidungsverhalten und Schlafproblemen. Die Symptome hatten Krankheitswert. Die Reaktionen der Umwelt haben das Kind mehr verunsichert als der Vorfall selbst.

 

Der Beklagte macht geltend, § 1328a ABGB sei eng auszulegen, die Bestimmung erfasse nur die „informelle“ (informationsbezogene?) Privatsphäre wie das Lesen fremder Post oder eine rechtswidrige Telefonüberwachung. Jedenfalls habe sein Verhalten die Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten. Da er das Kind auch nicht sexuell missbraucht habe (§ 1328 ABGB), habe er nicht rechtswidrig gehandelt. Sein Verhalten habe den Schaden nicht adäquat verursacht, weil die psychische Beeinträchtigung des Kindes erst durch die überzogene Reaktion des Umfelds eingetreten sei. Die „Bezugspersonen“ des Kindes hätten es verabsäumt, eine therapeutische Begleitung zu veranlassen.

 

OGH: Der Beklagte hat ohne rechtfertigenden Grund in das durch § 16 ABGB und Art 8 EMRK begründete Persönlichkeitsrecht der Klägerin eingegriffen.

 

§ 16 ABGB ist nicht bloß Programmsatz, sondern Zentralnorm der österreichischen Rechtsordnung mit einem normativen, subjektive Rechte gewährenden Inhalt. Insbesondere ist dadurch die Privatsphäre einer Person gegen Eingriffe durch Dritte geschützt. Kern der Privatsphäre ist der höchstpersönliche Lebensbereich, insbesondere das Sexualleben. § 1328a ABGB knüpft an einem rechtswidrigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht an und enthält dafür eine Rechtsfolgenanordnung; Grundlage des Rechtswidrigkeitsurteils ist aber auch in seinem Anwendungsbereich § 16 ABGB.

 

Es mag zwar zutreffen, dass ein vergleichbarer Fall („Doktorspiele“ eines erwachsenen, offenkundig pädophil veranlagten Mannes mit einem 7½jährigen Mädchen) bisher noch nicht unter dem Gesichtspunkt des § 16 ABGB zu beurteilen war. Das kann die Zulässigkeit der Revision aber nicht begründen, weil an der Rechtslage aufgrund des Gesetzeswortlauts und der bisherigen Rsp  kein Zweifel besteht. Wer einen Menschen ohne dessen Zustimmung entkleidet, am Bauch berührt und im Geschlechtsbereich betrachtet, greift schwerwiegend in dessen Intimsphäre ein, und zwar auch dann, wenn er damit - was dem Senat höchst zweifelhaft erscheint, hier aber nicht endgültig geklärt werden muss - die Schwelle zur „geschlechtlichen Handlung“ iSv § 1328 ABGB noch nicht überschritten haben sollte. Dass die 7½jährige Klägerin dem Verhalten des Beklagten nicht wirksam zustimmen konnte, hat schon das Berufungsgericht zutreffend dargelegt. Andere Rechtfertigungsgründe - etwa die Notwendigkeit einer ärztlichen Untersuchung - sind nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Der Beklagte hat daher rechtswidrig gehandelt. Gründe, warum ihm das nicht als Verschulden zugerechnet werden könnte, zeigt er nicht auf.

 

Zwar hat auch die Aufarbeitung des Geschehens - nach den Feststellungen sogar überwiegend - zur psychischen Beeinträchtigung des Kindes beigetragen. Diese Aufarbeitung hätte es aber ohne das rechtswidrige und schuldhafte Verhalten des Beklagten nicht gegeben. An der Kausalität dieses Verhaltens besteht daher kein Zweifel. Die Adäquanz fehlte nur dann, wenn das strittige Verhalten für den Schaden nach allgemeiner Lebenserfahrung gleichgültig gewesen wäre und nur durch eine außergewöhnliche Verkettung von Umständen dazu geführt hatte. Das Hinzutreten weiterer Ursachen, insbesondere das ebenfalls ursächliche Verhalten von Dritten, schadet nur dann, wenn damit nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht gerechnet werden musste. Davon kann hier keine Rede sein, war doch die Reaktion der Umwelt eine geradezu typische Folge des vom Beklagten gesetzten Verhaltens. Der OGH hat bereits entschieden, dass nach einem sexuellen Missbrauch der Kausal- und Adäquanzzusammenhang auch dann zu bejahen ist, wenn die psychische Beeinträchtigung des Opfers nur zu einem geringen Teil auf die eigentliche Tat und zum überwiegenden Teil auf die nachfolgenden Aufklärungsmaßnahmen zurückzuführen ist. Es besteht kein Anlass, den hier vorliegenden Fall einer (zumindest) massiven Verletzung der Intimsphäre anders zu beurteilen.

 

Die psychische Beeinträchtigung des Kindes hat nach den Feststellungen Krankheitswert und geht damit über bloße Unlustgefühle hinaus. Damit ist der Schmerzengeldanspruch schon nach § 1325 ABGB begründet. Die Höhe des Schmerzengeldes hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist im konkreten Fall (6.800 EUR) nach den Feststellungen zu Dauer und Gewicht der Beeinträchtigung nicht zu beanstanden. Damit kommt es auf die Anwendbarkeit von § 1328a ABGB (oder § 1328 ABGB) nicht an. Ein Mitverschulden des gesetzlichen Vertreters (Unterlassen einer therapeutischen Betreuung) könnte selbst dann, wenn es gegenüber der schwerwiegenden Verfehlung des Beklagten überhaupt ins Gewicht fiele, den Schadenersatzanspruch des Kindes nicht mindern.