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02.04.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Arbeitsunfall iSd § 175 ASVG (hier: Absturz nach dem Öffnen eines Fensters)

Wird das schädigende Ereignis wesentlich durch die Zugehörigkeit zum Betrieb mitbedingt, haben also betriebliche Einrichtungen bei der Entstehung des Unfalls wesentlich mitgewirkt und wurde der Unfall daher wesentlich durch die Umstände an der Arbeitsstätte oder die Arbeitstätigkeit selbst verursacht - etwa weil sie unter erhöhtem Gefahrenrisiko selbst verursacht wurde und dieses erhöhte Risiko auch tatsächlich zum Unfall geführt hat - liegt ein Arbeitsunfall vor; den Versicherten trifft die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen; den Unfallversicherungsträger trifft die Beweislast dafür, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine Lösung vom Betrieb eingetreten ist


Schlagworte: Unfallversicherung, Arbeitsunfall, innerer Zusammenhang, private (eigenwirtschaftliche) Verhaltensweisen, Beweislast
Gesetze:

§ 175 ASVG

GZ 10 ObS 16/11t [1], 13.03.2012

 

OGH: Gem § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen. Entgegen der Beurteilung der Vorinstanzen ist ein Arbeitsunfall des Klägers zu bejahen.

 

Unfälle iS dieser Bestimmung sind zeitlich begrenzte Ereignisse, die zu einer Körperschädigung führen. Dass der folgenschwere Sturz des Klägers als Unfall anzusehen ist, ist zu Recht nicht strittig. Im Aufprall auf die Straße ist ein zeitlich begrenztes, (von außen) auf den Körper einwirkendes Ereignis zu sehen.

 

Für die Qualifikation eines Unfalls als Arbeitsunfall ist in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten Ereignis (Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen - wie im Anlassfall festgestellt - Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat.

 

Bei der Feststellung einer inneren (oder: sachlichen) Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Im Vordergrund stehen Verhaltensweisen, die einem vernünftigen Menschen als Ausübung der geschützten Tätigkeit erscheinen (objektive Bedingung) und vom Handelnden auch in dieser Intention entfaltet wurden (subjektive Bedingung). Die Feststellung eines inneren Zusammenhangs ist eine Wertentscheidung. Sie erfordert, sämtliche Gesichtspunkte und Überlegungen miteinzubeziehen und sie sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit zu werten; erst daraus folgt entweder das Vorhandensein eines versicherten Verhaltens oder das Vorliegen privatwirtschaftlicher Verrichtungen. Entscheidend ist, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen. Die subjektive Meinung, betriebsdienlich tätig zu sein, ist unfallversicherungsrechtlich dann relevant, wenn diese Meinung in den objektiven Verhältnissen eine ausreichende Stütze findet.

 

Private (eigenwirtschaftliche) Verhaltensweisen des Versicherten - zB Essen, Trinken, Körperpflege, Schlafen - stehen grundsätzlich nicht unter Versicherungsschutz. Kommen jedoch besondere wesentlich durch die betriebliche Tätigkeit bedingte Umstände hinzu, wird der Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit noch nicht unterbrochen, denn die gesetzliche Unfallversicherung erstreckt sich auf alle jene Gefahren, denen der Versicherte infolge seiner Betriebstätigkeit ausgesetzt ist. Wird das schädigende Ereignis wesentlich durch die Zugehörigkeit zum Betrieb mitbedingt, haben also betriebliche Einrichtungen bei der Entstehung des Unfalls wesentlich mitgewirkt und wurde der Unfall daher wesentlich durch die Umstände an der Arbeitsstätte oder die Arbeitstätigkeit selbst verursacht - etwa weil sie unter erhöhtem Gefahrenrisiko selbst verursacht wurde und dieses erhöhte Risiko auch tatsächlich zum Unfall geführt hat - liegt ein Arbeitsunfall vor.

 

Ist eine private (eigenwirtschaftliche) Tätigkeit nach ihrer Art und Dauer bei natürlicher Betrachtungsweise so, dass sie nur zu einer zeitlich und räumlich geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit führt und noch ein innerer Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und der betrieblichen Tätigkeit besteht, entfällt der Versicherungsschutz noch nicht. Eine Verneinung des Versicherungsschutzes selbst bei geringfügigen Unterbrechungen würde in konsequenter Durchführung bedeuten, dass der arbeitende Mensch, um seinen Versicherungsschutz zu erhalten, einer Maschine vergleichbar, während der gesamten Arbeitszeit sich ausschließlich auf die Arbeit auszurichten und alle persönlichen Gedanken, Bedürfnisse und Empfindungen schlechthin zu unterdrücken hätte.

 

Ein innerer Zusammenhang des Fensteröffnens durch den Kläger mit seiner versicherten Tätigkeit ist - im Gegensatz - aufgrund neuer Sachverhaltsgrundlage - zum Vorprozess - zu bejahen:

 

Nach den Feststellungen führte der Kläger, unmittelbar bevor er das Fenster öffnete, im Rahmen seines die Versicherung begründenden Arbeitsverhältnisses Umzugsarbeiten aus, die er nach dem Öffnen des Fensters fortsetzen wollte. Das Öffnen des Fensters war zwar keine Arbeitstätigkeit im engeren Sinn, aber von der Intention des Klägers getragen, die Temperaturbedingungen im Raum, wo die Umzugsarbeiten auch auszuführen waren, für die beabsichtigte Weiterarbeit zu verbessern. Sie führte auch nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit, hielt sich doch der Kläger schon im Raum auf und nimmt das Öffnen eines Fensters sehr wenig Zeit in Anspruch. Nach den Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Kläger im unmittelbaren Anschluss an das Öffnen des Fensters aus dem Fenster stürzte. Das Fensteröffnen führte nur zu einer geringfügigen, den Versicherungsschutz nicht aufhebenden Unterbrechung. Diese Verrichtung ist der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.

 

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen schadet dem Kläger nicht, dass nicht festgestellt werden konnte, welche „äußere oder innere Ursache zum Sturz aus dem Fenster geführt hat“.

 

Nach den auch in Sozialrechtssachen geltenden Grundsätzen trifft den Versicherten die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen. Er hat daher nach der Entscheidung 10 ObS 30/91 den kausalen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zur Verletzung führenden Unfall nachzuweisen. Die Entscheidung weist aber dem Unfallversicherungsträger die Beweislast dafür zu, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine Lösung vom Betrieb eingetreten ist.

 

Das (deutsche) Bundessozialgericht hat ausgesprochen, verunglückt ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hatte, so entfällt der Versicherungsschutz nur dann, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen oder beendet hatte.

 

Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rsp des OGH, wonach der Unfallversicherungsträger die Beweislast dafür trägt, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine Lösung vom Betrieb eingetreten ist, und wird vom erkennenden Senat geteilt. Dass unklar geblieben ist, ob eine dem betrieblichen oder eine dem privaten Bereich zuzurechnende Handlung zu dem Sturz des Klägers, der zuletzt eine betriebliche Tätigkeit verrichtet hatte, geführt hat, belastet also die beklagte Partei, weil der Beweis, dass der Kläger die versicherte Tätigkeit an seinem Arbeitsplatz für eine private Tätigkeit unterbrochen oder beendet hatte, nicht erbracht wurde.

 

Dass eine bestimmte Ursache des Sturzes nicht festgestellt werden konnte, steht der Annahme eines Arbeitsunfalls nicht entgegen. Der ungeklärte Unfallverlauf belastet den Kläger nach der Lage des Falls nicht. Auszugehen ist davon, dass - wie dargelegt - der Kläger im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit verrichtete. Es steht aufgrund der negativen, den OGH bindenden Feststellung des Erstgerichts nicht fest, dass außer der versicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit auch außerbetriebliche Umstände als Ursachen in Betracht kommen. Dass ein plötzlicher, nicht betriebsbedingter Schwindelanfall oder eine plötzliche, nicht betriebsbedingte Bewusstlosigkeit als allein wesentliche Ursachen möglich sind, reicht zur Verneinung der Unfallkausalität der versicherten Tätigkeit nicht aus. Kann nämlich nicht festgestellt werden, dass ein Schwindelanfall oder eine Bewusstlosigkeit zum Sturz führten, so scheiden sie schon im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn als Ursache aus.