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16.04.2012 Zivilrecht

OGH: Arzthaftung – zur Frage, wie weit die Aufklärungspflicht iZm (Vorsorgeschutz-)Impfungen geht

Auch bei medizinischen Behandlungen oder Eingriffen, die zwar nicht im engsten Sinn des Wortes dringlich sind, aber doch im Regelfall zu deutlichen gesundheitlichen Vorteilen gegenüber einer Unterlassung der Maßnahme führen, ist nicht auf jede nur denkbare nachteilige Konsequenz hinzuweisen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Arzthaftung, Aufklärungspflicht, Impfung
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB

GZ 1 Ob 14/12h [1], 01.03.2012

 

OGH: Zutreffend haben die Vorinstanzen auf die Rsp hingewiesen, wonach die Pflicht des Arztes zur Aufklärung um so umfassender ist, je weniger dringlich der vorgesehene Eingriff erscheint, wobei dieser Grundsatz auch für die Aufklärung vor einer Impfung gilt. Ebenso wurde in einer Vielzahl von höchstgerichtlichen Entscheidungen ausgesprochen, dass die Frage des Umfangs der ärztlichen Aufklärungspflicht stets nur im Einzelfall entschieden werden kann und der Arzt nicht auf alle nur denkbaren Folgen der Behandlung hinweisen muss. Die Anforderungen an den Umfang der Aufklärung des Patienten über mögliche schädliche Auswirkungen könne nicht einheitlich, sondern nach den Gesichtspunkten gewissenhafter ärztlicher Übung und Erfahrung den Umständen des Einzelfalls und den Besonderheiten des Krankheitsbildes Rechnung tragend ermittelt werden. Es könnten auch keine Prozentsätze (Promillesätze) dafür angegeben werden, bei welcher Wahrscheinlichkeit von Schädigungen eine Aufklärungspflicht nicht mehr besteht. Die Aufklärungspflicht sei aber jedenfalls verletzt, wenn bei einer nicht notwendigen Operation über ein Infektionsrisiko von immerhin 3,5 bis 5 % oder bei einer nicht zwingend notwendigen Operation über ein 3%iges Risiko von Lähmungserscheinungen nicht aufgeklärt wird.

 

Auch bei medizinischen Behandlungen oder Eingriffen, die zwar nicht im engsten Sinn des Wortes dringlich sind, aber doch im Regelfall zu deutlichen gesundheitlichen Vorteilen gegenüber einer Unterlassung der Maßnahme führen, ist nicht auf jede nur denkbare nachteilige Konsequenz hinzuweisen. Gerade in solchen Fällen ist auch zu bedenken, dass Patienten durch das Aufzählen von verschiedenen - jeweils höchst unwahrscheinlichen - denkbaren Nebenwirkungen davon abgehalten werden könnten, eine an sich sinnvolle und in der Regel gesundheitsfördernde Maßnahme vornehmen zu lassen, zumal eine Vielzahl von Patienten auch mit Wahrscheinlichkeitsangaben im 10.000stel- oder 100.000stel-Bereich nichts anfangen kann.

 

Wenn der Kläger eine Widersprüchlichkeit in der Rsp des OGH darin zu erkennen vermeint, dass einerseits darauf abgestellt wird, ob eine Information (über äußerst seltene Nebenwirkungen) bei der Entscheidungsbildung eines verständigen Patienten ernsthaft ins Gewicht fiele, und andererseits für den Fall der Verletzung der Aufklärungspflicht dem Arzt die Beweislast dafür auferlegt wird, dass der konkrete Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung erteilt hätte, unterliegt er offenbar einem grundsätzlichen Irrtum. Auf den konkreten Patienten ist nach der dargestellten Rsp eben nur abzustellen, wenn eine Aufklärungspflichtverletzung bejaht wird. Damit steht es keinesfalls im Widerspruch, für den Umfang der Aufklärungspflicht auf einen verständigen Patienten abzustellen und zu fragen, welche Informationen für eine ausreichend abgewogene freie Willensentscheidung typischerweise erforderlich sind.

 

Im vorliegenden Fall steht fest, dass das Risiko für den Kläger nach der in Rede stehenden Impfung an ITP zu erkranken höchstens zwischen 0,025 und 0,045 % lag, und das auch nur dann, wenn er zur Gruppe von 3 % jener Geimpften gehörte, die nach der ersten Teilimpfung noch keine erfolgreiche Antikörperantwort erhalten hatten. Rein rechnerisch lag die Erkrankungswahrscheinlichkeit daher überhaupt nur zwischen 0,000075 und 0,000135 %.

 

Berücksichtigt man nun die allgemein bekannten Vorteile eines Impfschutzes gegen Masern, Mumps und Röteln, mit dem die nachteiligen Folgen dieser Infektionskrankheiten verhindert werden können - die Impfung wird vom BM für Gesundheit und Frauen ausdrücklich empfohlen (§ 1 v BGBl II 2003/223 und 2006/526 iVm § 1b Abs 2 ImpfschadenG) -, vermag der erkennende Senat der Beurteilung des Berufungsgerichts nicht zu folgen, dass das äußerst geringe Risiko, als Folge der zweiten Impfung an ITP zu erkranken, bei einem verständigen Impfkandidaten - bzw bei Impfungen im Kindesalter bei seinen Eltern - für die Entscheidung, sich der Impfung zu unterziehen oder diese zu unterlassen, bei vernünftiger Abwägung ins Gewicht gefallen wäre. War nun auf das (geringe) Risiko einer ITP-Erkrankung als Impffolge nicht hinzuweisen, ist die klageabweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.