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23.04.2012 Verfahrensrecht

OGH: Befangenheitsanzeige eines OGH-Mitglieds betreffend anderer Senatsmitglieder?

Die Möglichkeit der Anzeigeerstattung nach § 22 GOG steht einem einzelnen anderen Senatsmitglied nicht zu


Schlagworte: Befangenheitsanzeige, OGH-Mitglied, andere Senatsmitglieder
Gesetze:

§ 22 GOG, § 5 OGHG, § 19 JN

GZ 9 Nc 9/12s [1], 05.04.2012

 

OGH: Für das im Spruch genannte Verfahren ist nach der Geschäftsverteilung des OGH der 6. Senat zuständig, der seine Verstärkung beschlossen hat. Ein Mitglied des verstärkten Senats zeigt Befangenheitsgründe an, die nicht dieses Mitglied betreffen und beantragt die betroffenen Senatsmitglieder für befangen zu erklären.

 

Diese Anzeige wurde dem erkennenden Senat nach Art VIII.3.2. der Geschäftsverteilung des OGH als für die Entscheidung über die Ablehnung und Ausschließung eines Mitglieds eines Zivilsenats zuständigen Senats zugewiesen.

 

Diese Befangenheitsanzeige ist unzulässig.

 

Nach stRsp sind im „Ablehnungsverfahren“ grundsätzlich - soweit nichts Abweichendes geregelt ist - die Bestimmungen des Verfahrens in der Hauptsache anzuwenden.

 

Die im Hauptverfahren anzuwendenden Bestimmungen der JN und der ZPO regeln grundsätzlich nur die Ablehnung von Richtern durch die Parteien.

 

Die amtswegige Wahrnehmung einer allfälligen Befangenheit ist im GOG im Unterabschnitt über die „Gerichtspersonen“ in § 22 über die „Anzeige von Ausschließungs- und Befangenheitsgründen“ geregelt.

 

Die Entscheidung des erkennenden Senats über eine Befangenheit ist - soweit kein Ablehnungsantrag einer Partei vorliegt - nach dem klaren Wortlaut des § 22 Abs 3 GOG („Infolge“) an eine „Anzeige“ gebunden. Die Funktion des erkennenden Senats beschränkt sich daher vorweg auf die Beurteilung der Legitimation zur Erstattung einer Anzeige iSd § 22 GOG.

 

Die Anzeige ist nach § 22 Abs 2 iVm Abs 1 GOG vom „Richter“ aufgrund seiner Kenntnisse hinsichtlich der „ihn“ betreffenden richterlichen Geschäfte zu erstatten. Eine darüber hinausgehende Anzeigemöglichkeit ist in den hier anzuwendenden Verfahrensgesetzen der JN und ZPO - anders als im Strafverfahren (§ 44 Abs 2 StPO) - nicht vorgesehen. Darin kann im Hinblick auf die unterschiedliche Struktur der Verfahrensgesetze gerade im Zivilprozess, der viel stärker auf den Dispositionen der Parteien beruht, auch keine Gesetzeslücke gesehen werden.

 

Nicht näher geregelt ist in § 22 GOG, wer „Richter“ iSd § 22 GOG ist.

 

Dazu ist vorweg auf die Funktion der Anzeige einzugehen. Die Anzeige durch den „Richter“ betrifft, wie sich aus der Einordnung im GOG im Unterabschnitt „Gerichtspersonen“ ergibt, die Vorsorge für eine den Ansprüchen des Art 6 EMRK, aber auch des Art 47 der Grundrechtecharta entsprechende Gerichtsbarkeit. Gleichzeitig wird im Verfahren über die Anzeige aus dienstrechtlicher Sicht auch über die Entbindung des Richters von seinen Dienstpflichten iSd § 57 Abs 1 RStDG, die durch die Zuordnung einer Rechtssache im Rahmen der allgemeinen Geschäftsverteilung entstehen, entschieden. Insoweit wird einem Richter, der sich etwa wegen seiner persönlichen Beziehung zu einer Verfahrenspartei zur Wahrnehmung einer unparteiischen Amtsausübung nicht in der Lage sieht, auch eine subjektive Rechtsposition eingeräumt. Im Allgemeinen erfüllt die Anzeige des „Richters“ also eine doppelte Funktion.

 

Die Formulierung des GOG weist auf die jeweilige Person des einzelnen „Richters“ oder „richterlichen Hilfsbeamten“ hin. Das GOG unterscheidet regelmäßig zwischen dem einzelnen Richter und dem Senat und ordnet etwa an den Gerichtshöfen die Verteilung auf Gerichtsabteilungen und Senatsabteilungen mit einem Vorsitzenden und mehreren Richtern an (§ 32 GOG). Ähnliche Strukturen finden sich auch in der JN (Senat bzw Einzelrichter nach den §§ 7 ff JN). Die Organisation des OGH und die Bildung von dessen Spruchkörper ist allerdings nicht im GOG und der JN geregelt, sondern im OGHG.

 

Als Besonderheit für den OGH ordnet § 5 Abs 1 OGHG an, dass - soweit im OGHG selbst nichts anderes angeordnet ist - der OGH in Senaten „tätig“ wird. Strittige Fragen im Rahmen der Entscheidung durch die Oberste Instanz in Zivil- und Strafsachen (Art 92 Abs 1 B-VG) sollen also grundsätzlich nicht von einem Richter alleine, sondern von einem Richtergremium entschieden werden. Das Verhältnis zu § 22 GOG könnte dahin interpretiert werden, dass sich diese Regelungen nur auf „Entscheidungen“ des OGH beziehen, nicht aber auf bloße „Anzeigen“.

 

Gegen eine solche enge Sicht des § 5 Abs 1 OGHG spricht schon der Wortlaut, weil dieser nicht nur „Entscheidungen“, sondern - alle nicht anders im OGHG zugeordneten - „Tätigkeiten“ erfasst. Dagegen die Anzeigeerstattung als „Tätigkeit“ nicht dem OGH, sondern bloß der Interessensphäre des einzelnen Richters zuzuordnen spricht schon die doppelte Funktion dieser Anzeige.

 

Vor allem aber sprechen systematische sowie verfassungs- und europarechtliche Überlegungen gegen eine enge Interpretation des § 5 Abs 1 OGHG iZm Befangenheitsanzeigen.

 

Hier ist vorweg davon auszugehen, dass der zur Vereinheitlichung berufene verstärkte Senat nach den Vorentscheidungen (vgl dazu, dass im Ablehnungsverfahren die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des zuständigen gerichtlichen Organs nicht zu überprüfen ist) auch Fragen zu beantworten haben wird, die die Vereinbarkeit der in Österreich vorgesehenen Möglichkeiten der Verbandsklage in den §§ 28 ff KSchG mit den Vorgaben der EU betreffen (RL 1993/13/EWG; RL 2009/22/EG). Nicht nur der Art 6 EMRK, sondern auch Art 47 der Grundrechtecharta enthalten Verfahrensgarantien. Die Vorgaben des Art 6 EMRK und wohl auch des Art 47 der Grundrechtecharta sind nun dahin zu verstehen, dass sie einerseits die Unparteilichkeit des gesamten Spruchkörpers zum Prüfungsgegenstand machen. Andererseits werden vom Gesetzgeber auch entsprechende Vorkehrungen gefordert.

 

Dass die Beurteilung der Voraussetzungen für die Anzeige umfangreiche Überlegungen und eine umfassendere Meinungsbildung erfordern könnte, war dem historischen Gesetzgeber im Jahre 1893 nicht bewusst. In den Gesetzesmaterialien wurde noch ausgeführt, dass die Entscheidung selbst „der Judicatur kaum irgend welche Schwierigkeiten bereitet“. Gerade durch die Rsp des EGMR wurden neben der von einzelnen betroffenen Richtern leicht beurteilbaren „subjektiven“ Befangenheit auch Kriterien der „objektiven“ Befangenheit entwickelt, die nicht so klar einsichtig sind. Nach der auf der Rsp des EGMR fußenden Rsp reicht schon der „Anschein“ der Befangenheit. Diese objektiv zu beurteilenden - manchmal gar nicht allen Parteien bekannten, oft den privaten Bereich eines Richters betreffenden - Umstände lassen durchaus unterschiedliche Einschätzungen auch gewissenhaftester Richter zu. Diese Entwicklung spricht dafür, schon die Frage der Erstattung einer Anzeige über diese Umstände auch vom Senat nach § 5 OGHG beurteilen zu lassen.

 

Im Zivilverfahren fällt ins Gewicht, dass vor dem OGH eine Verhandlung im Regelfall nicht vorgesehen ist (§ 509 ZPO). Damit ist auch die Möglichkeit der Parteien, einen unmittelbaren Eindruck von den entscheidenden Richtern zu gewinnen und Ablehnungsanträge zu stellen eingeschränkt. Hinzu kommt, dass im Falle einer Sachentscheidung durch den OGH diese sofort rechtskräftig wird und danach eine Geltendmachung von Ablehnungsgründen nicht mehr in Betracht kommt; die Teilnahme eines befangenen Richters stellt zwar einen Nichtigkeitsgrund dar, jedoch kann dieser nur bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft wahrgenommen werden.

 

Die besondere Stellung des OGH, die verfahrensrechtlichen Besonderheiten und die zunehmende Komplexität der objektiven Befangenheitsgründe sprechen dafür, dass § 5 OGHG die „Tätigkeit“ der Anzeigeerstattung nach § 22 GOG im Interesse der Vorsorge für eine Art 6 EMRK und Art 47 der Grundrechtecharta entsprechende Rsp auch dem zuständigen Senat als zuständigem „Richter“ zuordnet. Die Anzeigeerstattung kann sich auf die Darstellung jener Umstände beschränken, aus denen die Annahme des Vorliegens einer Befangenheit nicht ausgeschlossen scheint.

 

Nicht eingeschränkt ist die Möglichkeit des selbst in seiner dienstrechtlichen Stellung betroffenen Senatsmitglieds, eine Befangenheitsanzeige zu erstatten (§ 22 GOG iVm § 57 RStDG).

 

Die Möglichkeit der Anzeigeerstattung nach § 22 GOG steht somit einem einzelnen anderen Senatsmitglied nicht zu. Wird diesem insoweit doch weder nach der JN, dem GOG noch dem OGHG eine eigenständige Funktion zugeordnet, sondern ist es auf entsprechende Anträge im Rahmen der Beratungen (§§ 9 f JN; § 5 OGHG) im Senat verwiesen (zur Vertraulichkeit der kollegialen Beratung § 219 Abs 1 ZPO und § 413 ZPO).

 

Die hier von einem einzelnen Mitglied des verstärkten Senats an den Ablehnungssenat gerichtete Anzeige war daher zurückzuweisen.