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30.04.2012 Zivilrecht

OGH: Zur rechtlichen Relevanz eines „STOP-Schildes“ (Vorrangzeichen „HALT“ iSd § 52 lit c Z 24 StVO) auf einer Schipiste

Eine § 1 Abs 2 StVO (für Straßen ohne öffentlichen Verkehr) entsprechende Ermächtigung des Pistenhalters durch die FIS-Regel Nr 8, mit dem Aufstellen von Vorrangzeichen (hier „STOP-Schild“ iSd § 52 lit c Z 24 StVO) auf Pistenkreuzungen oder Pisteneinmündungen eine § 19 Abs 4 StVO vergleichbare bindende Vorrangregelung mit der Konsequenz einer Wartepflicht oder Anhaltepflicht zu schaffen, besteht nicht


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Schipiste, STOP-Schild, Vorrangzeichen „HALT“, keine Wartepflicht / Anhaltepflicht
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 52 lit c Z 24 StVO, FIS-Regeln

GZ 1 Ob 16/12b [1], 01.03.2012

 

OGH: Die StVO gilt nach ihrem § 1 Abs 1 Satz 1 für Straßen mit öffentlichem Verkehr. Straßen sind nach § 2 Abs 1 Z 1 StVO für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landflächen. Demnach sind Schipisten keine Straßen iSd StVO. Dass die Vorrangregeln der StVO auf Schipisten grundsätzlich nicht gelten, wird von den Parteien auch nicht in Zweifel gezogen. Primärer Streitpunkt ist aber, ob ein „STOP-Schild“ nach § 52 lit c Z 24 StVO eine verbindliche Vorrangregelung mit vergleichbaren Konsequenzen, wie sie die StVO im Verhältnis vorrangberechtigter und wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer kennt, schafft.

 

Der Kläger beruft sich dazu auf Nr 8 der FIS-Regeln (Verhaltensregeln für Schifahrer und Snowboarder in der Fassung 2002). Diese sind ebenso wie der vom österreichischen Kuratorium für Sicherung vor Berggefahren erarbeitete Pistenordnungsentwurf (sog POE-Regeln) keine gültigen Rechtsnormen, sie sind auch nicht Gewohnheitsrecht. Als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Schisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind, und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet, kommt diesen Regeln jedoch erhebliche Bedeutung zu.

 

Der Unfall ereignete sich im echten „Gegenverkehr“, in dem in der Nähe der Liftstationen aus (mehr oder weniger) entgegengesetzter Richtung zwei Pisten zusammentrafen und eine Vorrangslage iSd FIS-Regel Nr 3 nicht bestand. Deren Anwendung stand ebenso wie jene der Nr 5 auch nie zur Diskussion.

 

FIS-Regel Nr 8 verpflichtet nun jeden Schifahrer und Snowboarder, die Markierung und die Signalisation zu beachten. Nach den Erläuterungen zu dieser FIS-Regel sind Pisten mit Hinweis-, Gefahren- und Sperrtafeln gekennzeichnet. Ist eine Piste als gesperrt oder geschlossen bezeichnet, ist dies ebenso zwingend zu beachten wie der Hinweis auf Gefahren. Die FIS-Regel Nr 8 ist va für Haftungsfragen betreffend den Pistenhalter relevant, der sich auf die Einhaltung seiner Anweisungen weitgehend verlassen kann. Das hier verwendete Vorrangzeichen „HALT“ (§ 52 lit c Z 24 StVO) zählt nicht zu den in der ÖNORM S 4611 Teil 1 beschriebenen standardisierten Symbolen für Warn-, Gefahren-, Sperr- und Hinweiszeichen. Ö-NORMEN, die nicht durch konkrete Rechtsschriften für verbindlich erklärt wurden, haben nur insofern Bedeutung, als sie - konkludent - zum Gegenstand von Verträgen gemacht wurden. Die zitierte ÖNORM, die nach ihrem Punkt 1 (Anwendungsbereich) als Grundlage für die Einteilung von Schipisten in verschiedene Schwierigkeitsgrade sowie für die Markierung und Beschilderung von Schipisten zur Information der Schifahrer dient, bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Schifahrern (und wohl auch Snowboardern) und Pistenhalter, das ja in der Regel durch den Erwerb einer Liftkarte vertraglicher Natur ist. Die ÖNORM konkretisiert dennoch die (vertragliche) Pistensicherungspflicht des Pistenhalters.

 

Marwin Gschöpf leitet aus der FIS-Regel Nr 8 ab, dass etwaige vom Pistenhalter errichtete Tafeln die Vorrangsituation an Pistenkreuzungen verbindlich regeln, ohne allerdings näher darzulegen, wie diese Tafeln zu gestalten sind und ob diese Verbindlichkeit zur Warte- oder im Fall eines „STOP-Schildes“ zu einer Anhaltepflicht führt.

 

Stabentheiners Beitrag zu den Ergebnissen des 30. Zusammentreffens des Rechtssymposiums des Fachverbandes der Seilbahnen behandelt das Problem des Zusammentreffens von Wintersportlern auf Pisteneinmündungen und Pistenkreuzungen unter dem Aspekt der Pistensicherungspflicht des Pistenhalters, der solche Bereiche nur ausnahmsweise, abgestellt auf die Kriterien der Einsehbarkeit, der Einmündungs- bzw Kreuzungssituation, des Einmündungs- oder Kreuzungswinkels sowie der zu erwartenden Fahrgeschwindigkeiten kennzeichnen, absichern bzw entschärfen müsse, und zwar je nach Intensität der Gefahr durch deutliche Beschilderung (etwa gem Empfehlung der ÖNORM) oder erforderlichenfalls durch Netze mit der Aufschrift „LANGSAM“ oder „SLOW“ oder durch richtungsgebende Netze bzw in Extremfällen durch Verengung in Form einer „Schleuse“. Soweit es das Verhalten der Wintersportler selbst betrifft, wird ebenso wie von Pichler verlangt, dass diese solche Kreuzungsbereiche mit erhöhter Aufmerksamkeit und Vorsicht befahren und beim Einfahren auch die Ankommrichtung der Benützer der anderen Piste beobachten. Verwiesen wird auf die Eigenverantwortung jedes Pistenbenützers.

 

Gerade diese von Schifahrern und Snowboardern zu fordernde Eigenverantwortlichkeit, die im allgemeinen Rücksichtnahmegebot der FIS-Regel Nr 1 zum Ausdruck kommt, ist ein wesentlicher Punkt, der gegen das (vom Kläger gewünschte) Ergebnis einer verbindlichen Vorrangregelung mit Warte- oder Anhaltepflicht durch Vorrangzeichen auf einer Schipiste spricht. Wäre von einer verbindlichen Regelung eines Vorrang-Nachrang-Verhältnisses auszugehen, wäre es letztlich nur konsequent, vergleichbar § 3 StVO den Vertrauensgrundsatz anzuwenden: Der bevorrangte Pistenbenützer könnte darauf vertrauen, dass der von der benachrangten Piste Kommende seinen Vorrang wahrt, was eine vorsichtige und rücksichtsvolle Fahrweise des „Vorrangberechtigten“ zweifellos nicht fördert. Dazu kommen die Probleme der Erkennbarkeit der Vorrangregelung selbst, der Einschätzbarkeit des richtigen Verhaltens sowie der gerade durch eine derartige Regelung hervorgerufenen Gefahrensituation. Im Straßenverkehr sind die Vorrangzeichen der StVO in der Regel (der Rechtslage entsprechend) so positioniert, dass sie eine Vorrangsituation für die Verkehrsteilnehmer eindeutig klarstellen, weshalb sowohl Wartepflichtige als auch Vorrangberechtigte wissen (sollten), was sie zu tun haben. Fahrzeuge im Straßenverkehr bewegen sich regelmäßig auf vorgegebenen Fahrbahnen und Fahrlinien, während beim Schilauf ständige Änderungen der Fahrtrichtung, der Fahrweise und Fahrgeschwindigkeit zum Wesen dieses Sports gehören und die Fahrspuren im normalen Pistenbetrieb kreuz und quer verlaufen. Die Möglichkeit zur Einschätzung, welcher Pistenbenutzer dem anderen nun den Vorrang zu gewähren hat, lässt sich mit den im Straßenverkehr üblichen Verhältnissen nicht vergleichen. Das Problem der fehlenden oder schlechten Erkennbarkeit eines Vorrangzeichens sowohl für Vorrangberechtigte als auch für Wartepflichtige könnte wohl auch nicht durch das Aufstellen mehrerer Schilder beseitigt werden. Ein „Schilderwald“ schafft einerseits nur Verwirrung und erhöht andererseits die Gefahr, dass Pistenbenutzer mit den aufgestellten Tafeln kollidieren. In diesem Fall setzt sich der Pistenhalter dem Vorwurf aus, gerade durch das Aufstellen von derartigen Vorrangzeichen seine Pistensicherungspflicht verletzt zu haben. Bleibt ein Schifahrer oder Snowboarder als Reaktion auf ein „STOP-Schild“ in einem unübersichtlichen Pistenbereich stehen, vergrößert dies die Gefahr von „Auffahrunfällen“ mit nachfolgenden Benützern der angeblich benachrangten Piste. Derartigen Gefahren soll gerade durch die FIS-Regel Nr 6 begegnet werden.

 

Insgesamt zeigt sich somit, dass derartige, der StVO entnommene Vorrangzeichen nicht unbedingt zur Entschärfung neuralgischer Pisteneinmündungen oder Pistenkreuzungen beitragen, sondern eher zusätzliche Probleme schaffen. Eine § 1 Abs 2 StVO (für Straßen ohne öffentlichen Verkehr) entsprechende Ermächtigung des Pistenhalters durch die FIS-Regel Nr 8, mit dem Aufstellen von Vorrangzeichen (hier „STOP-Schild“ iSd § 52 lit c Z 24 StVO) auf Pistenkreuzungen oder Pisteneinmündungen eine § 19 Abs 4 StVO vergleichbare bindende Vorrangregelung mit der Konsequenz einer Wartepflicht oder Anhaltepflicht zu schaffen, besteht nicht. Ein Vorrang des Klägers war demnach nicht gegeben.

 

Beide Schifahrer waren bei Annäherung an die Pisteneinmündung zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit sowie zur Beobachtung der von der jeweiligen anderen Piste kommenden Wintersportler verpflichtet. Selbst wenn dem „STOP-Schild“ als Warnhinweis insoweit Bedeutung zuzumessen wäre, als die von der Piste 11 kommenden Schifahrer und Snowboarder zu einer erhöhten Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen wären, hätte dies auf das Ergebnis der Verschuldensteilung keinen entscheidenden Einfluss. Der Kläger beobachtete den „entgegenkommenden Verkehr“ überhaupt nicht, was einen krassen Verstoß gegen die FIS-Regel Nr 1 bedeutete. Der Beklagte seinerseits erkannte den direkten Kollisionskurs sogar, reagierte aber zunächst gar nicht. Eine unterschiedliche Gewichtung des jeweiligen Aufmerksamkeitsfehlers zu Lasten eines der beiden Schifahrer ist in dieser Situation nicht sachgerecht, weil keiner der Beteiligten das primär unfallauslösende Verhalten setzte, sondern beide unaufmerksam aufeinander zufuhren. Damit erweist sich die vom Erstgericht vorgenommene Teilung des Schadens im Verhältnis 1 : 1 nach § 1304 ABGB als zutreffend.