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04.06.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Ausübung der Tätigkeit an mehreren Arbeitsstellen innerhalb eines Tages – Entgeltanspruch für die Wegzeit zwischen den Einsatzorten?

Hat der Arbeitnehmer den Weg nach den örtlichen und zeitlichen Vorgaben des Arbeitgebers zurückzulegen und sind die zeitlichen Abläufe von diesem so festgelegt worden, dass dem Arbeitnehmer zwischen den Einsatzorten keine Freizeit zur Verfügung steht, so hat der Arbeitgeber für diese Zeit über den Arbeitnehmer disponiert; diese Zeit als „Freizeit“ zu qualifizieren, ist daher nicht möglich


Schlagworte: Arbeitsvertrag, Ausübung der Tätigkeit an mehreren Arbeitsstellen innerhalb eines Tages, Entgeltanspruch für die Wegzeit
Gesetze:

§ 1152 ABGB, § 2 AZG

GZ 9 ObA 47/11v [1], 30.04.2012

 

Die Tätigkeit der Klägerin als Raumpflegerin war dadurch gekennzeichnet, dass sie an insgesamt 575 Tagen an zwei vom Standort des Betriebs der Beklagten verschiedenen, in derselben Stadt gelegenen Arbeitsstellen zum Einsatz kam. Der Dienst beim Objekt 1 dauerte täglich von 6:00 Uhr bis 10:30 Uhr. Danach fuhr die Klägerin sofort mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Objekt 2, um dort weiter zu arbeiten. Die Reinigungsarbeiten beim Objekt 2 sollten um 11:00 Uhr aufgenommen werden und 2,5 bzw an Samstagen 2 Stunden dauern. Tatsächlich war die von der Beklagten veranschlagte Fahrzeit von einer halben Stunde zwischen den beiden Objekten jedoch zu knapp bemessen, weil die Klägerin mit öffentlichen Verkehrsmitteln etwa eine Dreiviertelstunde benötigte, um vom Objekt 1 zum Objekt 2 zu gelangen. Dadurch verzögerte sich der vorgesehene Beginn der Reinigungsarbeiten entsprechend.

 

Zwischen den Parteien ist strittig, ob es sich beim Weg der Klägerin vom Objekt 1 zum Objekt 2 um Arbeitszeit handelte, für die die Klägerin ein Entgelt beanspruchen kann. Dies wurde vom Berufungsgericht unter Hinweis auf die Rsp des OGH zu den zweigeteilten Diensten von Kraftfahrern (9 ObA 102/93 ua) und auf den hier anwendbaren Kollektivvertrag für Denkmal-, Fassaden-, Gebäudereiniger (im Folgenden kurz KollV) verneint.

 

OGH: Auszugehen ist davon, dass die Orte, an denen die Leistungen des Arbeitnehmers zu erbringen sind, zum wesentlichen Inhalt der Arbeitspflicht gehören. Nach den getroffenen Vereinbarungen sollte die Klägerin zuerst beim Objekt 1 in einem bestimmten zeitlichen Ausmaß Reinigungsarbeiten verrichten und sich danach umgehend zum Objekt 2 eines anderen Auftraggebers der Beklagten begeben, um dort ebenfalls Reinigungsarbeiten in einem bestimmten zeitlichen Ausmaß vorzunehmen. Die Zeit, die ein Arbeitnehmer braucht, um den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte zurückzulegen und nach Arbeitsschluss wieder in die Wohnung zurückzukehren, ist grundsätzlich nicht als Arbeitszeit zu beurteilen, weil sie vor Dienstbeginn oder nach Dienstende liegt. Gehört die Reisetätigkeit zum ständigen Aufgabenkreis des Arbeitnehmers, dann wird sie von der Rsp als Teil der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung und damit als Arbeitszeit im engeren Sinn gewertet.

 

Anders wurde die Situation bei den geteilten Diensten von Kraftfahrern (zB Personenverkehr im Liniendienst) beurteilt. Die dort beurteilten Fälle sind jedoch mit der Situation der Klägerin bei der Beklagten nicht zu vergleichen. Dies liegt nicht am Inhalt der Tätigkeit, sondern an der zeitlichen Gestaltung zwischen den Diensten. In den vom OGH beurteilten Fällen geteilter Dienste von Kraftfahrern ging es nicht wie bei der Klägerin bloß darum, nach Ende der Tätigkeit am Ort 1 umgehend zum Ort 2 zu gelangen. So betrugen im Fall 9 ObA 102/93 die Pausen der Kraftfahrer zwischen den Diensten bis zu fünf Stunden, die Wegzeiten hingegen nur etwa 30 Minuten; im Fall 9 ObA 6/09m betrugen die Pausen zum Teil über 4 Stunden, die Wegzeiten jedoch nur bis zu einer Dreiviertelstunde. Demgegenüber gab es bei der Klägerin keine über die Wegzeiten hinausgehenden Pausen. Die Zeit zwischen den zu reinigenden Objekten entsprach der Arbeitsplanung der Beklagten für die Klägerin und war ausschließlich dazu bestimmt, möglichst rasch von einem Objekt zum nächsten zu gelangen. Insoweit ähnelte die Tätigkeit der Klägerin - wenn sie auch nur zwei Orte zu besuchen hatte - jener eines Monteurs, der zur Durchführung von Servicearbeiten von Kunde zu Kunde fährt. Die Klägerin hatte - anders als die Kraftfahrer in den vorgenannten Fällen - nicht annähernd die Möglichkeit, die Zeit zwischen den Objekten nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die Bewegung vom Objekt 1 zum Objekt 2 im Auftrag der Beklagten kann auch nicht mit dem Weg von der Wohnung zum Arbeitsplatz verglichen werden. Den Weg zur Arbeit kann der Arbeitnehmer in der Regel antreten, von wo aus immer er will, und kann ihn grundsätzlich auch gestalten wie er will. Vorgegeben ist üblicherweise nur die Beginnzeit, zu der er am Arbeitsplatz eintreffen muss. Was der Arbeitnehmer auf dem Weg zur Arbeit allenfalls an privaten Dingen erledigt, steht in seinem Belieben und richtet sich praktisch nur danach, wann er von der Wohnung in Richtung Arbeit aufbricht. Demgegenüber waren Ort und Dauer des Aufenthalts der Klägerin beim Objekt 1 von der Beklagten exakt vorgegeben. Auch der Weg der Klägerin zum Objekt 2 stand in den Fällen, in denen sie vorher im Objekt 1 tätig war - nur um diese Fälle geht es hier - nicht in ihrem Belieben, sondern war von der Beklagten genau geplant. Die Weisung der Arbeitgeberin an die Arbeitnehmerin lautete, sich auf dem raschesten Weg vom Objekt 1 zum Objekt 2 zu begeben, um dort die Reinigungsarbeiten fortzusetzen. Dabei war die Beginnzeit beim Objekt 2 von der Beklagten so knapp kalkuliert, dass sie praktisch kaum eingehalten werden konnte. An eine freie Gestaltung des Weges vom Objekt 1 zum Objekt 2 nach den eigenen Vorstellungen der Klägerin war nicht im Entferntesten zu denken. Diese Zeit als „Freizeit“ der Klägerin zu qualifizieren, ist daher nicht möglich. Richtig ist, dass die Klägerin auf dem Weg vom Objekt 1 zum Objekt 2 keine Reinigungsarbeiten verrichtete; dies schließt aber die „Inanspruchnahme“ durch den Arbeitgeber nicht aus. Die Klägerin hatte diesen Weg nach den örtlichen und zeitlichen Vorgaben der Beklagten zurückzulegen. Die zeitlichen Abläufe waren von der Beklagten so festgelegt worden, dass der Klägerin zwischen den Objekten 1 und 2 keine Freizeit zur Verfügung stand. Insoweit hat daher die Beklagte auch für die Zeit zwischen den Reinigungsobjekten über die Klägerin disponiert.

 

In der Praxis wird die Entgeltproblematik bei Weg- und Reisezeiten vielfach durch kollektivvertragliche Regelungen gelöst. Dies ist hier allerdings nicht der Fall. Den Kollektivvertragsparteien war zwar die Problematik des Vorliegens mehrerer Arbeitsstellen bewusst, sieht doch § 6 Abs 3 KollV ausdrücklich vor, dass Arbeitnehmern, die ihre Tätigkeit an verschiedenen Arbeitsplätzen innerhalb eines Tages ausüben, die Fahrtkosten für die zweite und die weiteren Hin- und Rückfahrten zu den Arbeitsplätzen zu vergüten sind. In § 4 KollV, der die „Arbeitszeit“ regelt, findet sich keine Differenzierung zwischen der Ausübung der Tätigkeit an einer oder an mehreren Arbeitsstellen. Diese Bestimmung differenziert nur, ob die Arbeitsstelle mit dem Standort des Betriebs ident oder von dieser verschieden ist. In § 4 Abs 2 KollV heißt es, dass die Arbeitszeit bei Arbeitnehmern, die an einer vom Betrieb verschiedenen ständigen Arbeitsstelle tätig sind, an der Arbeitsstelle beginnt und endet. Der KollV ordnet aber im Übrigen weder an, die Wegzeit von einer ständigen Arbeitsstelle zur nächsten ständigen Arbeitsstelle als Arbeitszeit zu behandeln, noch steht er dem entgegen. Es bleibt daher bei den vorstehenden rechtlichen Erwägungen, die auf der konkreten Gestaltung des gegenständlichen Arbeitsverhältnisses aufbauen. Die Rechtsrüge der Klägerin ist somit berechtigt. Der Entgeltanspruch der Klägerin bezüglich ihrer Wegzeiten vom Objekt 1 zum Objekt 2 besteht dem Grunde nach zu Recht.