OGH > Zivilrecht
11.06.2012 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, „wieweit im Falle eines Kreisverkehrs, bei dem die Einfahrenden benachrangt sind, die Wartepflicht bei einer Einfahrt Auswirkungen auf die Vorrangverhältnisse bei der darauffolgenden Einfahrt hat“

Der Lenker hat seine Fahrgeschwindigkeit an die gegebenen Verhältnisse anzupassen (§ 20 Abs 1 StVO), wozu es auch gehört, dass er mit einem aus der rechts von ihm gelegenen Einmündung zeitlich noch vor ihm in den Kreisverkehr einfahrenden Fahrzeug rechnen muss; bei schwierig zu beurteilenden Vorrangsituationen besteht jedoch auch eine Verpflichtung zu besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich der vorherigen Einfahrt


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Kreisverkehr, schwierige Vorrangsituation, vorherige Einfahrt, besondere Aufmerksamkeitspflicht
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 2 Abs 1 Z 3c StVO, § 19 StVO, § 20 StVO

GZ 2 Ob 177/11k [1], 15.05.2012

 

OGH: Nach nunmehr stRsp des OGH trifft bei einer Schutzgesetzverletzung den Geschädigten die Beweislast für den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes, wobei der Nachweis der Tatsache ausreichend ist, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde. Der Schädiger hat dagegen zu beweisen, dass ihm die objektive Übertretung der Schutznorm nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist, etwa weil ihn an der Übertretung kein Verschulden traf.

 

Stützt der Geschädigte seinen Schadenersatzanspruch auf eine Vorrangverletzung, so hat er den von der Schutznorm erfassten Tatbestand, also das Bestehen einer Vorrangsituation nachzuweisen. Dies setzt die Klärung der Frage voraus, welches Fahrzeug aus welcher Straße kam und in welchem Verhältnis die betreffenden Verkehrsflächen zueinander stehen.

 

§ 2 Abs 1 Z 3c StVO definiert den Kreisverkehr als eine kreisförmige oder annähernd kreisförmig verlaufende Fahrbahn, die für den Verkehr in eine Richtung bestimmt ist. Die Anbringung des Vorschriftszeichens „Vorrang geben“ vor einer Begrenzungslinie verpflichtet zur Wahrung des Vorrangs des Verkehrs jenseits der Begrenzungslinie, hier also des Verkehrs auf dem Kreisverkehr.

 

Als die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs den Entschluss fasste, aus ihrer Stillstandposition loszufahren, befuhr kein anderes Fahrzeug den - für sie uneingeschränkt überblickbaren (die festgestellte Sichtbehinderung betraf einen Bereich im Mündungstrichter der vorherigen Einfahrt) - Kreisverkehr. Das - für sie nicht sichtbare - Klagsfahrzeug befand sich zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb der bevorrangten Verkehrsfläche im Mündungstrichter der Leonard-Bernstein-Straße. Beim Losfahren des Beklagtenfahrzeugs lag somit noch keine Vorrangsituation vor. Unter diesen Umständen hat der Kläger schon den ihm obliegenden Beweis der objektiven Übertretung der Schutznormen des § 19 Abs 4 und 7 StVO durch die Pkw-Lenkerin nicht erbracht. Dieser ist deshalb entgegen der Meinung der Vorinstanzen keine Vorrangverletzung anzulasten.

 

Es lag daher an sich am Kläger, seine Fahrgeschwindigkeit an die gegebenen Verhältnisse anzupassen (§ 20 Abs 1 StVO), wozu es auch gehörte, dass er mit einem aus der rechts von ihm gelegenen Einmündung zeitlich noch vor ihm in den Kreisverkehr einfahrenden Fahrzeug rechnen musste. Fuhr der Kläger auf das Beklagtenfahrzeug seitlich auf, weil er seine Geschwindigkeit nicht rechtzeitig zu reduzieren vermochte, traf ihn daher jedenfalls selbst ein Verschulden an der Kollision.

 

Andererseits war aber auch die Pkw-Lenkerin angesichts der im Unfallbereich insgesamt doch schwierig zu beurteilenden Vorrangsituation zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet. Diese Verpflichtung umfasste auch die Beobachtung des Verkehrsgeschehens im Mündungstrichter der nur rund 10 m entfernten vorherigen Einfahrt, musste sie doch jederzeit mit einem von dort - knapp vor oder nach ihr oder gar gleichzeitig - in den Kreisverkehr einfahrenden Fahrzeug rechnen. Da der Pkw-Lenkerin aus ihrer Stillstandposition die Sicht auf den Mündungstrichter verwehrt war, hätte sie nur mit besonderer Vorsicht und unter weiterer Beobachtung auch des links von ihr gelegenen Bereichs der Kreisfahrbahn in dieselbe einfahren dürfen.

 

Im Hinblick auf die etwa gleich schwer wiegenden Sorgfaltswidrigkeiten beider Fahrzeuglenker erscheint eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 angemessen.