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11.06.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Ende der Ausbildung – zur Auslegung des § 255 Abs 2 iVm Abs 2a ASVG idF BudgetbegleitG 2011

Der Gesetzgeber hat nach Ansicht des erkennenden Senats mit der Bestimmung des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG eine spezielle Regelung für jene Versicherten getroffen, bei denen zwischen dem Ende der Ausbildung bzw dem Eintritt in das Berufsleben und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war; in diesem Fall genügt es für die Erlangung des Berufsschutzes ausnahmsweise, dass zumindest in der Hälfte der Kalendermonate eine qualifizierte Erwerbstätigkeit vorliegt, wobei als absolute Untergrenze zwölf Pflichtversicherungmonate einer qualifizierten Erwerbstätigkeit vorliegen müssen


Schlagworte: Invaliditätspension, Ende der Ausbildung, Eintritt in das Berufsleben, Berufsschutz
Gesetze:

§ 255 ASVG, § 254 ASVG

GZ 10 ObS 50/12v [1], 03.05.2012

 

OGH: Die beklagte Partei zieht zu Recht die Richtigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, durch die Gesetzesänderung des § 255 Abs 2 ASVG durch das BudgetbegleitG 2011 sei ein neuer Stichtag (1. 1. 2011) ausgelöst worden und das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen sei zu diesem Stichtag zu prüfen, nicht in Zweifel.

 

Nach § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG idF BudgetbegleitG 2011 liegt eine überwiegende Tätigkeit iSd Abs 1 vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r ausgeübt wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r vorliegen. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag mehr als 15 Jahre, so verlängert sich der im zweiten Satz genannte Rahmenzeitraum um Versicherungsmonate nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a, d, e und g.

 

Nach § 255 Abs 2a ASVG gelten als Ende der Ausbildung nach Abs 2 der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul- oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r.

 

Nach den Gesetzesmaterialien soll künftig nur eine längere tatsächliche Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs geschützt werden und daher zur Erlangung des Berufsschutzes erforderlich sein. Als Erfordernis für das Bestehen eines Berufsschutzes wird die Ausübung von mindestens 7,5 Jahren einer solchen qualifizierten Tätigkeit innerhalb von 15 Jahren vor dem Stichtag vorgeschlagen. Liegen weniger als 15 Kalenderjahre vor, so muss (für die Erlangung des Berufsschutzes) zumindest in der Hälfte der vorliegenden Monate eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt worden sein („Hälfteregelung“), wobei für die Erlangung des Berufsschutzes als absolute Untergrenze zwölf Monate einer qualifizierten Tätigkeit normiert sind. Die „Beobachtungsjahre“ (15 Kalenderjahre oder „Hälfteregelung“) werden bei ArbeiterInnentätigkeiten vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit), nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt, gerechnet. Liegen mehr als 15 Beobachtungsjahre vor und fallen in den Beobachtungszeitraum Zeiten der Kindererziehung (höchstens vier Jahre pro Kind), Wochengeld, Präsenz- oder Zivildienst, so erfolgt eine Ausdehnung der Rahmenfrist um diese Zeiten („Rahmenfristerstreckung“). Liegen weniger als 15 Beobachtungsjahre vor, so ist eine Ausdehnung des Beobachtungszeitraums nicht möglich. Für diese Personengruppe gilt die „Hälfteregelung“ bezogen auf den Berufsschutz unbeschränkt.

 

Der Gesetzgeber stellt in § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG für die Erlangung eines Berufsschutzes weiterhin auf die überwiegende Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag („Rahmenzeitraum“) ab. Während der Gesetzgeber bisher auf das relative Überwiegen der qualifizierten Tätigkeit hinsichtlich der Zahl der Beitragsmonate in diesem Zeitraum abstellte, soll nunmehr nur noch eine längere tatsächliche Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs geschützt werden und einen Berufsschutz begründen. Der Gesetzgeber sieht als Erfordernis für die Erlangung eines Berufsschutzes für den Regelfall, bei dem zwischen dem Ende der Ausbildung bzw dem Eintritt in das Berufsleben und dem Stichtag für die aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit begehrte Pensionsleistung mehr als 15 Jahre liegen, die Ausübung von mindestens 7,5 Jahren einer solchen qualifizierten Tätigkeit innerhalb von 15 Jahren vor dem Stichtag („Rahmenzeitraum“) vor. Der Gesetzgeber geht somit für den Regelfall davon aus, dass erst bei Vorliegen einer Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit im Rahmenzeitraum von einer „überwiegenden“ Ausübung der qualifizierten Tätigkeit im Rahmenzeitraum ausgegangen werden kann.

 

Die „Beobachtungsjahre“ sind bei ArbeiterInnentätigkeiten vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit), nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt, zu rechnen. Der Gesetzgeber hat in § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 für Fälle, in denen der maßgebende Rahmenzeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag als Beobachtungszeitraum nicht in Betracht kommt, weil zwischen dem Ende der Ausbildung (= Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung, nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, eine spezielle Regelung dahingehend geschaffen, dass für die Erlangung des Berufsschutzes zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine (qualifizierte) Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r vorliegen muss („Hälfteregelung“).

 

Das Berufungsgericht hat diese „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG auch auf den Fall der Klägerin angewendet und dies damit begründet, dass auch dieser Fall vom Wortlaut der Norm umfasst sei, weil zwischen dem Ende der Berufsausbildung der Klägerin im Juni 2005 und dem Stichtag 1. 1. 2011 weniger als 15 Jahre liegen. Das Berufungsgericht hat allerdings selbst eingeräumt, dass durch diese Auslegung der mit der Novellierung des § 255 Abs 2 ASVG durch das BudgetbegleitG 2011 verbundene Zweck einer Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Erlangung eines Berufsschutzes im vorliegenden Fall in das Gegenteil verkehrt werde.

 

Nach Ansicht des erkennenden Senats ist bei der Auslegung der Bestimmung des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG jedoch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber, wie sich aus den zitierten Gesetzesmaterialien und den dort angeführten Beispielen ergibt, auch bei dieser Bestimmung vom Regelfall des Abschlusses einer Lehrausbildung mit ca 18 Jahren und dem anschließenden Eintritt des Versicherten in das Berufsleben ausgegangen ist, wobei zwischen diesem Zeitpunkt und dem Stichtag für die begehrte Pensionsleistung ein Zeitraum von weniger als 15 Beobachtungsjahren liegt. Der Gesetzgeber hat somit nach Ansicht des erkennenden Senats mit der Bestimmung des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG eine spezielle Regelung für jene Versicherten getroffen, bei denen zwischen dem Ende der Ausbildung bzw dem Eintritt in das Berufsleben und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war. In diesem Fall genügt es für die Erlangung des Berufsschutzes ausnahmsweise, dass zumindest in der Hälfte der Kalendermonate eine qualifizierte Erwerbstätigkeit vorliegt, wobei als absolute Untergrenze zwölf Pflichtversicherungmonate einer qualifizierten Erwerbstätigkeit vorliegen müssen.

 

Ein solcher Fall des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG liegt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber des BudgetbegleitG 2011 mit der Neuregelung des Berufsschutzes in § 255 Abs 2 ASVG bezweckten Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes hier nicht vor, weil bei der Klägerin im Hinblick auf ihren erstmaligen Eintritt in das Berufsleben im Juli 1990 ein Zeitraum von mehr als 15 Beobachtungsjahren vorliegt und ihr damit auch ein für die Erfüllung der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit nach der Wertung der Gesetzgebers ausreichender Rahmenzeitraum von 15 Jahren vor dem Stichtag zur Verfügung stand. Es besteht daher nach Ansicht des erkennenden Senats im Fall der Klägerin kein Anlass für eine - sachlich nicht gerechtfertigte - Verkürzung des gesetzlich vorgesehenen 15jährigen Rahmenzeitraums für die Beurteilung des Vorliegens eines Berufsschutzes.

 

Die Frage, ob die Klägerin Berufsschutz als gelernte Köchin genießt, ist daher nach der allgemeinen Regelung des § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 zu beurteilen. Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen unbestritten nicht, weil sie nach den Feststellungen im maßgebenden Rahmenzeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag nicht in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Erwerbstätigkeit als (gelernte) Köchin ausgeübt hat.

 

Gegen dieses Ergebnis bestehen entgegen der Rechtsansicht der Klägerin auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Es erscheint keineswegs unsachlich, dass der Gesetzgeber für die Erlangung des Berufsschutzes grundsätzlich auf das Vorliegen einer bestimmten Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit in einem bestimmten Rahmenzeitraum und bei jenen Versicherten, bei denen nur ein kürzerer Beobachtungszeitraum vorliegt, auf das Erfordernis der sog „Halbdeckung“ mit einer absoluten Untergrenze von zwölf Monaten einer qualifizierten Tätigkeit abstellt.

 

Da sich schließlich auch aus der in § 255 Abs 2 letzter Satz ASVG vorgesehenen Verlängerung des Rahmenzeitraums von 15 Jahren um die in § 8 Abs 1 Z 2 ASVG genannten Zeiten der Kindererziehung, des Wochengeldbezugs sowie der Präsenz- und Zivildienstleistung für den Prozessstandpunkt der Klägerin kein günstigeres Ergebnis ableiten lässt, kommt ihr entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts kein Berufsschutz nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 zu.

 

Die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Klägerin kann nach den Feststellungen noch eine Reihe von Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten und ist daher nicht invalide iSd § 255 Abs 3 ASVG.