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16.07.2012 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, ob einem Angehörigen ein Schmerzengeld wegen eines Schockschadens auch dann gebührt, wenn der Schock durch eine zunächst vorhandene Unklarheit über das Ausmaß der Unfallsfolgen herbeigeführt wird, sich in der Folge aber herausstellt, dass keine schwersten Verletzungen iSd Entscheidung 2 Ob 53/05s vorliegen

Ein bei einem nahen Angehörigen des Unfallopfers durch die Unfallsnachricht ausgelöster Schockschaden von Krankheitswert rechtfertigt den Zuspruch eines Schmerzengelds auch dann, wenn das Unfallopfer „schwerste“ Verletzungen erlitten hat; diese Verletzungen müssen im Zeitpunkt der Nachricht von einer solchen Schwere sein, dass entweder akute Lebensgefahr oder die konkrete Gefahr dauernder Pflegebedürftigkeit besteht; eine nachträgliche Besserung dieses Zustands ist für die Haftung des Schädigers bedeutungslos


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Schmerzengeld, Schockschaden eines nahen Angehörigen, zunächst vorhandene Unklarheit über das Ausmaß der Unfallsfolgen, keine schwersten Verletzungen
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 1325 ABGB

GZ 2 Ob 136/11f [1], 13.06.2012

 

Der Zweitkläger macht geltend, seine schwer verletzte Ehefrau sei zwei Jahre lang pflegebedürftig gewesen. Unmittelbar nach dem Unfall habe er um ihr Überleben und noch Tage später um den Erhalt ihres Beins bangen müssen. Die überbrachte Nachricht, seine Ehefrau habe einen schweren Verkehrsunfall gehabt und liege mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus, habe ihn in einen Schockzustand versetzt. Eine solche Nachricht komme einer Todesnachricht gleich, aufgrund derer nach mittlerweile stRsp bei Schockschäden naher Angehöriger ein Schmerzengeld zuzuerkennen sei.

 

OGH: Seit der Entscheidung 2 Ob 79/00g wird in stRsp des OGH nahen Angehörigen eines Getöteten für den ihnen verursachten „Schockschaden“ mit Krankheitswert Schmerzengeld zuerkannt, weil diese „Dritten“ durch das Erleiden eines Nervenschadens in ihrem absolut geschützten Recht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt und als unmittelbar Geschädigte anzusehen sind.

 

Die Rechtswidrigkeit einer solchen Körperverletzung wird dabei nicht aus dem Schutzzweck der Verhaltensvorschrift, welche die Erstverletzung verhindern soll, sondern aus der bei Verletzung absolut geschützter Rechte gebotenen Interessenabwägung abgeleitet. Die Gefahr einer unzumutbaren Ausweitung der Haftung wird dadurch eingegrenzt, dass es eines besonders starken Zurechnungsgrundes bedarf, also die Verletzungshandlung gegenüber dem Angehörigen - im Rahmen einer typisierten Betrachtung - in hohem Maß geeignet erscheint, bei diesem einen Schockschaden herbeizuführen.

 

In dem der Entscheidung 2 Ob 79/00g zugrunde gelegenen Fall war Auslöser für die psychische Erkrankung des Angehörigen die Todesnachricht. Der OGH betonte unter Berufung auf die hL, dass es bei Schockschäden naher Angehöriger keinen Unterschied mache, ob der Schock durch das Unfallserlebnis oder die Unfallsnachricht bewirkt worden sei. Die Frage, ob auch der durch die Nachricht von einer Verletzung (ohne Todesfolge) bei einem nahen Angehörigen des Unfallopfers ausgelöste Schockschaden mit Krankheitswert ersatzfähig sein kann, musste bisher allerdings vom OGH noch nicht entschieden werden. In dem zu 2 Ob 111/03t entschiedenen Fall war nicht die Nachricht vom plötzlichen Unfall und der Verletzung beider Elternteile primärer Auslöser für die psychische Erkrankung der Tochter, sondern die infolge der Krankenhausaufenthalte der Eltern auf sie hereinbrechende Belastung mit Haushalt und Schule.

 

Die Entscheidung 2 Ob 53/05s, auf die sich die Vorinstanzen stützten, betraf einen anders gelagerten Fall. Dort hatte die Ehefrau eines in einem schweren Verkehrsunfall mit zahlreichen Todesopfern verwickelten Buschauffeurs behauptet, aufgrund der unfallskausalen psychischen Erkrankung ihres Ehemanns im Laufe der auf den Unfall folgenden Monate des Zusammenlebens selbst eine depressive Störung entwickelt zu haben. Der erkennende Senat verwies auf Lehrmeinungen in Österreich und Deutschland sowie die Empfehlungen des Europarats zur Entschließung (75) 7 vom 14. 3. 1975 (RZ 1977, 24) und stellte klar, dass für eine infolge der Unfallverletzung eines nahen Angehörigen aufgetretene depressive Störung jedenfalls dann kein Schmerzengeld zustehe, wenn das Unfallopfer keine „schwersten“ (einem Pflegefall gleichkommenden) Verletzungen erlitten habe.

 

Wie Karner in seiner zustimmenden Entscheidungsbesprechung (ZVR 2006/178, 459) bemerkte, ging es in dieser Sache nicht um einen Schockschaden wegen des unmittelbaren Miterlebens oder der Nachricht von der Tötung oder schweren Verletzung eines nahen Angehörigen, sondern darum, ob auch solche psychische Beeinträchtigungen von Krankheitswert ersatzfähig sind, die durch die dauernde Belastung entstehen, welche mit einer schweren Verletzung der physischen oder psychischen Gesundheit eines nahen Angehörigen verbunden ist. Die Erörterung dieser Problemstellung war auch Gegenstand der in der Entscheidung zitierten inländischen Belegstelle.

 

Laut Karner erscheine es nur folgerichtig, dass man einen Ersatzanspruch auch dann gewähre, wenn nicht die Verletzung des Angehörigen selbst einen Schock auslöse, sondern beispielsweise erst seine Betreuung aufgrund einer Belastungssituation zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des pflegenden Familienmitglieds führe. Ein Größenschluss erscheine insofern geradezu zwingend, da eine dauerhafte Belastung oftmals noch schwerer wiege, als ein zeitlich begrenztes Schockgeschehen.

 

Dieser Argumentation Karners folgte der erkennende Senat in der Entscheidung 2 Ob 163/06v, in welcher der Anspruch auf Schmerzengeld für die seelische Beeinträchtigung einer Person mit Krankheitswert wegen der durch die Dauerfolgen „schwerster“ Verletzungen eines nahen Angehörigen bewirkten Lebensumstände (grundsätzlich) bejaht wurde. Dem damaligen Fall lag das noch als klärungsbedürftig erachtete Tatsachenvorbringen der klagenden Eltern zugrunde, dass ihre im Unfallszeitpunkt 16-jährige Tochter aufgrund der erlittenen Verletzungen nun ständiger Pflege und Aufsicht bedürfe und ihr Leidensbild durch starke psychologische Belastungen, eine gestörte Sprachentwicklung sowie eine bleibend gestörte mentale Entwicklung geprägt und sie überdies auf den Rollstuhl angewiesen sei.

 

In der Entscheidung 2 Ob 77/09a ging es erneut um die krankheitswertige Gesundheitsbeeinträchtigung der Ehefrau eines an unfallskausalen psychischen Dauerfolgen leidenden Unfallopfers, bei der sich eine aus der Überlastungssituation resultierende depressive Störung entwickelt hatte. Der OGH billigte die den Anspruch auf Schmerzengeld mit der Begründung, das Krankheitsbild des Ehemanns der Klägerin erreiche nicht das von der Rsp geforderte Ausmaß einer „schwersten“ Verletzung, ablehnende zweitinstanzliche Entscheidung als vertretbar und wies die (zu dieser Frage zugelassene) Revision zurück.

 

Kathrein unterstrich in seiner Anmerkung zu dieser Entscheidung (ZVR 2010/120, 266) den Ausnahmecharakter des auf einen Schockschaden gestützten Ersatzanspruchs in der zur Beurteilung vorgelegenen Konstellation: Es müsse zum Ersten eine massive Verletzung des Unfallopfers gegeben sein. Diese Verletzung müsse zum Zweiten mit schwerwiegenden Dauerfolgen verbunden sein. Zum Dritten müssten diese Dauerfolgen die Lebensumstände des Angehörigen gravierend beeinträchtigen. Mehr oder wenige „übliche“ Folgen einer auch schweren Verletzung reichten selbst dann nicht aus, wenn sie das Familienleben oder die Ehe des Angehörigen nicht unerheblich beeinträchtigten. Die Belastung der Angehörigen müsse gravierender sein. Dabei werde va - aber nicht nur - an einen Pflege- und Betreuungsbedarf des Unfallopfers mit der damit für die pflegenden Angehörigen zwangsläufig verbundenen Umstellung und Belastung zu denken sein.

 

In einigen Entscheidungen wurde die Rsp zu Fällen des Schockschadens dahin zusammengefasst, dass einem „Drittgeschädigten“ nur dann Schmerzengeld aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung mit Krankheitswert gebühre, wenn dies durch den Tod eines nahen Angehörigen, die „schwerste“ Verletzung eines solchen oder durch das Miterleben des Todes eines Dritten ausgelöst worden sei. Eine Ausweitung der Haftung des Schädigers auf Fälle, in denen nicht der Tod oder eine „schwerste“ Verletzung des unmittelbar Geschädigten verursacht wurde, würde die Ersatzpflicht des Schädigers unangemessen und unzumutbar erweitern.

 

Diese Aussage lässt in ihrer Allgemeinheit aber unberücksichtigt, dass das Erfordernis einer „schwersten“ Verletzung iSe Pflegebedürftigkeit des Unfallopfers bisher nur im Falle einer durch die andauernde familiäre Belastungssituation ausgelösten psychischen Erkrankung des nahen Angehörigen geprüft und bejaht worden ist.

 

Es ist somit - wie weiter oben bereits angedeutet - danach zu fragen, ob auch bei einem durch die Nachricht von einer Verletzung herbeigeführten Schockschaden des nahen Angehörigen Schmerzengeld gebühren kann und wenn ja, welcher Schweregrad der Verletzung des Unfallopfers hiefür vorliegen muss:

 

In der Lehre wird, soweit die jeweiligen Autoren auf die erörterte Problematik eingehen, die Ersatzfähigkeit eines durch die Nachricht von der Verletzung des unmittelbar Geschädigten ausgelösten Schockschadens eines nahen Angehörigen grundsätzlich befürwortet. Gefordert wird aber auch hier eine „schwere“ oder „ernsthafte“ Verletzung des Unfallopfers.

 

Der Forderung nach einer „schweren“ Verletzung ist jedenfalls schon deshalb zuzustimmen, weil ansonsten die Verletzungshandlung nicht die für eine Haftungsbegründung erforderliche besondere Gefährlichkeit für die Gesundheit des Dritten erreicht. Die Nachricht von einer leichten Verletzung oder einer bloßen Gefährdung reicht daher nicht aus.

 

Was nun die Schwere der Verletzung des unmittelbar Geschädigten anlangt, können die in der bisherigen Rsp entwickelten Grundsätze als Maßstab dienen. Demnach ist, um eine unangemessene Ersatzpflicht des Schädigers zu vermeiden, auch in diesen Fällen nur auf „schwerste“ Verletzungen abzustellen, also solchen, bei denen die Nachricht auf den nahen Angehörigen typischerweise ähnlich wie eine Todesnachricht wirkt. Das wird in der Regel nur auf Verletzungen von solcher Schwere zutreffen, bei der für das Unfallopfer entweder eine akute Lebensgefahr oder die konkrete Gefahr dauernder Pflegebedürftigkeit besteht. Andere schwere Verletzungen sind hingegen - entgegen Beisteiner - nicht als haftungsbegründend anzuerkennen. Insoweit ist vielmehr an den in der Rsp stets betonten engen Grenzen der Ersatzfähigkeit von Schockschäden festzuhalten.

 

Entscheidend sind die objektiven Umstände im Zeitpunkt der den Schock auslösenden Nachricht. Diese allein wäre nicht ausschlaggebend; die eine akute Lebensgefahr oder die konkrete Gefahr dauernder Pflegebedürftigkeit bewirkenden „schwersten“ Verletzungen des Unfallopfers müssen tatsächlich vorhanden sein. Dass die Auswirkungen dieser „schwersten“ Verletzungen oft noch nicht endgültig eingeschätzt werden können, hat zu Lasten des Schädigers zu gehen. Auch wenn sich das Unfallopfer wieder erholen und von seinen Verletzungen ganz oder teilweise genesen sollte, würde dies an dem bereits verwirklichten Haftungsgrund nichts mehr ändern.