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13.08.2012 Zivilrecht

OGH: Arzthaftungsprozess – zur Frage, inwieweit die Rsp zur anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht auf die ärztliche Verschwiegenheitspflicht anwendbar ist

Die Judikatur betreffend die einen Rechtsanwalt treffende Pflicht zur Verschwiegenheit hinsichtlich ihm in Ausübung seines Berufs anvertrauter oder bekannt gewordener Geheimnisse kann auch für die Beurteilung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht herangezogen werden; ein Arzt darf - ähnlich wie ein Rechtsanwalt - „in eigener Sache“ Berufsgeheimnisse im unbedingt notwendigen Ausmaß preisgeben


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Arzthaftung, Verschwiegenheitspflicht, in eigener Sache, Nebenintervenient
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 54 ÄrzteG, § 17 ZPO

GZ 7 Ob 50/12x [1], 25.04.2012

 

OGH: Das Berufungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass Ärzte wie Rechtsanwälte berufliche Geheimnisträger sind und die ärztliche Verschwiegenheitspflicht nach § 54 Abs 1 ÄrzteG auf ähnlichen Überlegungen beruht, die auch für die Verschwiegenheitspflicht eines Rechtsanwalts nach § 9 Abs 2 RAO gelten. Die Judikatur betreffend die einen Rechtsanwalt treffende Pflicht zur Verschwiegenheit hinsichtlich ihm in Ausübung seines Berufs anvertrauter oder bekannt gewordener Geheimnisse kann daher auch für die Beurteilung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht herangezogen werden. Insbesondere treffen die Erwägungen, dass keine Verschwiegenheitspflicht besteht, falls der Rechtsanwalt ihm in Ausübung seines Berufs anvertraute oder bekannt gewordene Geheimnisse „in eigener Sache“ vorbringen muss, um seine Honorarforderung gegen den Mandanten durchzusetzen oder sich in einem Strafverfahren zu verteidigen oder behauptete Schadenersatzansprüche abzuwehren, auch auf Ärzte zu. § 54 Abs 2 Z 4 ÄrzteG bestimmt, dass die ärztliche Verschwiegenheitspflicht nicht besteht, wenn die Offenbarung des Geheimnisses nach Art und Inhalt zum Schutz höherer Interessen der öffentlichen Gesundheitspflege oder der Rechtspflege unbedingt erforderlich ist. Daraus ist nicht abzuleiten, dass das Vorliegen höherer Interessen nicht auch in anderen Bereichen eine Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht rechtfertigen kann.

 

Die Ansicht, dass bei einem Arzt nach umfassender Abwägung seiner Interessen gegen die davon berührten Geheimhaltungsinteressen eines Patienten die Wahrnehmung seiner Interessen „in eigener Sache“ eine Durchbrechung des Geheimnisschutzes rechtfertigen kann, wird auch im Schrifttum vertreten. Klaus (Ärztliche Schweigepflicht 143 ff) hat sich eingehend insbesondere auch mit der Verteidigung des Arztes gegen „Kunstfehlervorwürfe“ auseinandergesetzt. Er meint, in solchen Fällen stehe dem Geheimhaltungsinteresse des Patienten nicht nur ein „einfaches vermögensrechtliches Interesse“ des Arztes, sondern mitunter die Infragestellung seiner Existenz (man bedenke die Möglichkeit eines befristeten Berufsverbots) gegenüber. Schon aus diesem Grund werde man davon ausgehen können, dass das Interesse des Arztes, sich gegen „Kunstfehlervorwürfe“ zu verteidigen, das Geheimhaltungsinteresse des Patienten überwiege. Auch unter dem Gesichtspunkt des Art 6 EMRK dürfe ein Arzt einem Kunstfehlervorwurf nicht schutzlos ausgeliefert werden. Dem ist beizupflichten; der Ansicht, ein Arzt dürfe - ähnlich wie ein Rechtsanwalt - „in eigener Sache“ Berufsgeheimnisse im unbedingt notwendigen Ausmaß preisgeben, ist beizutreten.

 

Dem widerspricht auch der Kläger in der Revision an sich nicht. Er macht vielmehr zum einen geltend, dass ein Nebenintervenient, der - wie hier der Beklagte - im betreffenden Verfahren nicht unmittelbar haftbar gemacht werde, nicht „in eigener Sache“ tätig werde. Der Beklagte sei als (bloßer) Nebenintervenient deshalb im Verfahren gegen Dr. S***** an seine ärztliche Schweigepflicht gebunden. Im Übrigen sei die Ansicht, Dr. S***** könnte, falls er gegen den Kläger unterliege, Regressansprüche gegen den Beklagten geltend machen, nicht haltbar; der vom Genannten angekündigte Regress sei von vorne herein aussichtslos. Zum anderen wendet der Revisionswerber ein, die Krankenkartei enthalte auch Diagnosen einzelner Ordinationen, die mit dem Bruch seines Mittelfußknochens nichts zu tun hätten und auch nicht das Restless-legs-Syndrom beträfen. Insofern sei es nicht gerechtfertigt gewesen, die gesamte Kartei vorzulegen.

 

Diese Einwände sind nicht berechtigt:

 

Der Beitritt als Nebenintervenient setzt nach § 17 Abs 1 ZPO ein konkretes rechtliches Interesse am Ausgang des betreffenden Verfahrens voraus. Ein solches rechtliches Interesse hat auch, wer als Regresspflichtiger von einer Verfahrenspartei in Anspruch genommen werden könnte. Ein Nebenintervenient, der etwa durch Vorlage einer Urkunde einen bestimmten Prozessausgang herbeiführen will, um einer Regresspflicht zu entgehen, handelt ebenso „in eigener Sache“ wie wenn er dies als Prozesspartei gemacht hätte. Die Ansicht des Berufungsgerichts, den Beklagten habe als Nebenintervenient „in eigener Sache“ im erwähnten Sinn keine Verschwiegenheitspflicht getroffen, ist daher zu billigen.

 

Der weitere, die Berechtigung der Nebenintervention des Beklagten verneinende, Einwand des Klägers, der Beklagte habe im vorliegenden Fall tatsächlich gar keine Regressansprüche zu befürchten, übersieht die nach den festgestellten Umständen hier naheliegende Möglichkeit einer Solidarhaftung nach § 1302 ABGB. Dr. S***** hat bei der Streitverkündigung die Ansicht vertreten, falls der Vorwurf, er habe es aufgrund einer falschen Diagnose verabsäumt, den Kläger in ein Krankenhaus einzuweisen, zutreffe, müsse dies auch für den Beklagen gelten, der den Kläger ebenfalls untersucht habe; der Beklage hätte daher im Fall des Obsiegens des Klägers zumindest für einen Teil des Schadens einzustehen. Dies ist nicht von der Hand zu weisen.

 

Was ein Arzt zur Abwehr behaupteter Ansprüche vorbringen darf, kann, wie der Revisionswerber zutreffend ausführt, nicht von seinem Gutdünken, sondern muss von objektiven Kriterien abhängen. Kein Zweifel kann auch daran bestehen, dass sich die Angaben des Arztes bei einer Durchbrechung seiner Verschwiegenheitspflicht zur Wahrung seiner Verteidigungsrechte in einem Zivil-, Disziplinar- oder Strafverfahren stets auf das Notwendigste zu beschränken haben (§ 54 Abs 2 Z 4 ÄrzteG: „unbedingt erforderlich“). Was und wie viel der Arzt zur Wahrung seiner Interessen preisgeben darf, wird daher von den Umständen des Einzelfalls abhängen. Die Ansicht des Revisionswerbers, im vorliegenden Fall sei der Beklagte unter objektiven Gesichtspunkten nicht berechtigt gewesen, seine Krankenkartei ab dem Jahr 2001 vollständig vorzulegen, kann nicht geteilt werden. Zu bedenken ist, dass der Kläger wegen neurologischer Probleme in den Beinen beim Beklagten als Hausarzt (nach dessen Angaben bereits jahrelang) in Behandlung war. Alle diese Probleme betreffenden Eintragungen in der Krankenkartei konnten zur Gewinnung eines allenfalls eine Fehldiagnose rechtfertigenden Gesamtbilds geeignet sein. Ein von den Vorinstanzen über diesbezüglichen Einwand des Klägers erörtertes Vorgehen, einzelne, nicht die Thematik der Verletzung des Vorfußes betreffende Eintragungen unkenntlich zu machen (zu „schwärzen“), ist deshalb problematisch, weil der Kläger befürchten musste, sich dadurch dem Vorwurf auszusetzen, durch Weglassen bestimmter, seinem Prozessstandpunkt abträglicher Eintragungen versucht zu haben, das Gesamtbild zu seinen (bzw seines Kollegen Dr. S*****) Gunsten zu verändern. Im vorliegenden Einzelfall konnte der Beklagte daher doch in Kauf nehmen, auch das „Kunstfehlerthema“ nicht berührende Eintragungen der Vollständigkeit halber mit vorzulegen, um sich durch eine lückenlose Darstellung der Krankengeschichte gegen den Vorwurf eines schuldhaften Fehlverhaltens zu verteidigen. Als Beispiele für die in der Krankenkartei enthaltenen, einen Regressanspruch nicht tangierenden Eintragungen nennt der Kläger „teilweise ganz banale Erkrankungen“ und einen „Schnupfen“; das Vorhandensein - wohl anders zu behandelnder - für ihn etwa peinlicher Eintragungen oder dergleichen behauptet er nicht. Dass der Beklagte für das Verfahren objektiv nicht relevante Befunde vorgelegt hätte, wird vom Revisionswerber ebenfalls nicht behauptet.

 

Die Ansicht der Vorinstanzen, der Beklagte habe weder durch sein Vorbringen als Nebenintervenient noch durch die Vorlage von Urkunden, insbesondere auch nicht durch die Vorlage der vollständigen Krankenkartei, seine ärztliche Verschwiegenheitspflicht verletzt, ist demnach frei von Rechtsirrtum. Die Revision muss daher erfolglos bleiben.