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03.09.2012 Zivilrecht

OGH: Ausnahme von der Grundregel des Rechtsvorranges – zur Frage, ob eine allein durch vorübergehende Umstände (Schneelage) herbeigeführte schlechtere Wahrnehmbarkeit einer Straße zu einer Einstufung als untergeordnete Verkehrsfläche iSd § 19 Abs 6 StVO führt

Ist eine schneebedeckte Verbindungsstraße optisch nicht ohne weiteres und nicht eindeutig als Fahrbahn erkennbar, spricht dies für die Qualifikation der Verbindungsstraße als untergeordnete Verkehrsfläche iSv § 19 Abs 6 StVO


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Ausnahme von der Grundregel des Rechtsvorranges, untergeordnete Verkehrsfläche, schneebedeckte Fahrbahn
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 19 StVO

GZ 2 Ob 28/12z [1], 07.08.2012

 

OGH: Unstrittig ist, dass für das Gelände des Otto-Wagner-Spitals die StVO gilt. § 19 Abs 1 StVO bestimmt, dass Fahrzeuge, die von rechts kommen, im Allgemeinen den Vorrang haben. Gem § 19 Abs 6 StVO haben Fahrzeuge im fließenden Verkehr den Vorrang gegenüber Fahrzeugen, die von Nebenfahrbahnen, von Fußgängerzonen, von Wohnstraßen, von Haus- oder Grundstücksausfahrten, von Garagen, von Parkplätzen, von Tankstellen, von Feldwegen oder dergleichen kommen. Diese Bestimmung stellt eine Ausnahme von der Grundregel des Rechtsvorrangs dar.

 

Der aus dem Gesetzeswortlaut klar erkennbare Zweck des § 19 Abs 6 StVO liegt darin, die Behinderung von Fahrzeugen, die sich auf Verkehrsflächen mit größerer Verkehrsbedeutung im fließenden Verkehr befinden, durch andere Fahrzeuge, die aus Verkehrsflächen mit geringerer Verkehrsbedeutung kommen und sich in den fließenden Verkehr erst einordnen müssen, hintanzuhalten.

 

Die Beurteilung, ob eine Verkehrsfläche den in § 19 Abs 6 StVO - nicht taxativ - aufgezählten Verkehrsflächen gleichzuhalten ist, hat nach objektiven Kriterien zu erfolgen. Bei der Lösung dieser Frage kommt es daher nicht auf die jeweilige subjektive Betrachtungsweise der beteiligten Lenker oder auf ihre besondere Ortskenntnis an, sondern darauf, ob sich die betreffende Verkehrsfläche in ihrer gesamten Anlage deutlich von sonstigen öffentlichen Straßen unterscheidet. Die Verkehrsbedeutung und -frequenz ist dabei nicht entscheidend. Bei dieser Beurteilung kommt es immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Im Zweifelsfall ist der Rechtsvorrang als gegeben anzunehmen.

 

Das Berufungsgericht bezieht sich auf Rsp, die betont, dass bei der Beurteilung, ob eine Verkehrsfläche iSd § 19 Abs 6 StVO einmünde, auf die Beschaffenheit der zu beurteilenden Verkehrsfläche in ihrer Gesamtheit abzustellen sei. Dabei zieht es jedoch für den vorliegenden Fall unzutreffende Schlussfolgerungen.

 

Zur Beurteilung der Beschaffenheit der Verkehrsfläche in ihrer Gesamtheit gehört nämlich auch die Erkennbarkeit für den Verkehrsteilnehmer. So sprach der Senat in der Entscheidung 2 Ob 4/92 aus, es sei entscheidend, ob sich die Verkehrsfläche für die Benützer der beiden Straßen während der Fahrt nach objektiven Kriterien - ohne Rücksicht auf deren Ortskenntnisse - in ihrer gesamten Anlage eindeutig von sonstigen öffentlichen Straßen unterscheide. 2 Ob 19/07v spricht vom „Indizcharakter“ der örtlichen Gegebenheiten für das Vorliegen einer Fläche gem § 19 Abs 6 StVO. Gem 2 Ob 233/08s dürften für die Lösung der Frage, ob eine Verkehrsfläche unter § 19 Abs 6 StVO zu subsumieren sei, nur solche Kriterien herangezogen werden, die für die Benützer der betreffenden Fläche und die Benützer der Straße, in die sie einmünde, während ihrer Fahrt deutlich erkennbar seien, wie etwa Befestigung und Asphaltierung. Die Entscheidung 8 Ob 165/82 gebrauchte die Tatsache, dass zwei Straßen gleichermaßen mit Schnee bedeckt waren, als Argument dafür, dass eine Verkehrsfläche von untergeordnetem Charakter nicht anzunehmen sei.

 

Aus der zitierten Rsp des OGH ist zu schließen, dass dem Umstand, wie sich eine Verkehrsfläche für den Straßenbenützer während der Fahrt darstellt, eine wesentliche Bedeutung zukommt. Auch der deutsche BGH stellt in ähnlichen Fällen auf das Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale ab.

 

Im vorliegenden Verfahren war nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen die schneebedeckte Verbindungsstraße „optisch nicht ohne weiteres und nicht eindeutig als Fahrbahn erkennbar“. Dies spricht für die Qualifikation der Verbindungsstraße als untergeordnete Verkehrsfläche iSv § 19 Abs 6 StVO.

 

Daraus folgt, dass das Klagsfahrzeug gegenüber dem Beklagtenfahrzeug bevorrangt war. Das Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls trifft daher den Erstbeklagten.