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07.01.2013 Zivilrecht

OGH: Art 19 Montrealer Übereinkommen – zur Haftung von Luftfrachtführern (und Flughafenbetreibern) gegenüber Fluggästen für Flugverspätungen (hier: verspäteter Abflug aufgrund mangelhafter Schneeräumung und anschließender verpasster Kreuzfahrt)

Der Luftfrachtführer hat nur für „Leute“ einzustehen, die in Ausführung einer ihnen vom Luftfrachtführer übertragenen Verrichtung handeln; ist der Flughafenbetreiber für die Räumung der Pisten verantwortlich, zählt er insoweit nicht zu den Leuten des Luftfrachtführers; es kann zwar zwischen dem Luftfrachtführer und dem Flugplatzbetreiber, nicht aber zwischen letzterem und dem Fluggast ein Vertragsverhältnis angenommen werden, welches einem Schadenersatzanspruch infolge Verspätung eines Fluges aufgrund mangelhafter Räumung der Bewegungsflächen zugrundegelegt werden könnte


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Luftbeförderung, Flugverspätung, Luftfrachtführer, seine Leute, Flughafenbetreiber, verspäteter Abflug aufgrund mangelhafter Schneeräumung und anschließender verpasster Kreuzfahrt
Gesetze:

Art 19 MÜ, §§ 1295 ff ABGB

GZ 6 Ob 131/12a [1], 16.11.2012

 

OGH: Nach Art 19 Satz 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen), BGBl III 131/2004, hat der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht.

 

Es ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig, dass die Erstbeklagte als Luftfrachtführer für den Kläger tätig war und dass dem Kläger als Reisendem aufgrund des verspäteten Starts des Fluges ***** am 6. 1. 2010 vom Flughafen Wien nach Frankfurt ein Schaden in Höhe des im Revisionsverfahren noch geltend gemachten Klagsbetrags entstanden ist.

 

Nach Art 19 Satz 2 MÜ haftet der Luftfrachtführer jedoch nicht für den Verspätungsschaden, wenn er nachweist, dass er und seine Leute alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung des Schadens getroffen haben oder dass es ihm oder ihnen nicht möglich war, solche Maßnahmen zu treffen. Aufgrund dieser Bestimmung kann der Luftfrachtführer im Verfahren behaupten und beweisen, dass ihn und seine Leute kein Verschulden am Verspätungsschaden trifft.

 

Das Erstgericht konnte nicht feststellen, wie viele Räumfahrzeuge am 6. 1. 2010 vor dem Start des Fluges ***** um 9:46 Uhr von der Zweitbeklagten eingesetzt wurden und ob ein Einsatz von mehr Räumfahrzeugen sowie eine den Start des Fluges ermöglichende Räumung der Pisten zu einem solch früheren Zeitpunkt möglich gewesen wären, dass der Kläger seinen Anschlussflug in Frankfurt noch rechtzeitig erreicht hätte. Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, steht somit nicht fest, dass die Zweitbeklagte an diesem Tag ihrer Räumverpflichtung durch rechtzeitigen und ausreichenden Einsatz von Räumfahrzeugen in einem Ausmaß nachgekommen ist, das angesichts der herrschenden Witterungsverhältnisse vernünftigerweise zu erwarten und daher auch zu fordern gewesen wäre. Die Non-liquet-Feststellungen des Erstgerichts gehen sowohl zu Lasten der Erstbeklagten als Luftfrachtführer als auch zu Lasten der Zweitbeklagten (§ 1298 ABGB), sofern man ein Vertragsverhältnis zwischen ihr und dem Kläger unterstellen würde, kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei früherer oder intensiverer Räumung der Pisten seinen Anschlussflug noch erreicht hätte und damit der eingetretene Schaden ausgeblieben wäre. Dabei ist va zu berücksichtigen, dass nach den Feststellungen der Vorinstanzen bereits am 5. 1. 2010 gegen 22:00 Uhr (also rund 9 Stunden vor der Startzeit) „heftiger Schneefall“ eingesetzt hatte und dass bis gegen 7:00 Uhr des Abflugtags (also etwa zum Zeitpunkt des geplanten Starts) 10 cm Schnee gefallen waren, was bereits um 23:00 Uhr zur Belagsbildung auf den Pisten geführt hatte.

 

Richtig ist, dass dem Luftfrachtführer der Entlastungsbeweis regelmäßig gelingen wird, wenn der Flughafen wegen schlechter Wetterbedingungen geschlossen wird. Entgegen der von der Zweitbeklagten in ihrer Revision vertretenen Auffassung bedeutet dies aber nicht, dass der Entlastungsbeweis auch bei schlechten Wetterbedingungen allein gelingen muss; tatsächlich kann im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen werden, dass die Zweitbeklagte die Pisten zu spät und/oder mit zu wenigen Räumfahrzeugen, also zu wenig, geräumt hat, obwohl tatsächlich weitere Räumfahrzeuge vorhanden gewesen wären.

 

Wenn die Beklagten sich im Revisionsverfahren (weiterhin) auf höhere Gewalt berufen, weichen sie somit von dem von den Vorinstanzen festgestellten Sachverhalt ab.

 

Überlegungen zur Frage der (verspäteten) Enteisung des Flugzeugs der Erstbeklagten können unterbleiben, hätte doch der Kläger nach den Feststellungen der Vorinstanzen den Anschlussflug „auch ohne Engpass bei der Enteisung nicht erreicht“.

 

Der Luftfrachtführer hat im Hinblick auf Art 19 Satz 1 MÜ nicht nur für eigenes, sondern auch für das Verschulden seiner „Leute“ einzustehen. Zu diesen gehören nach hA nicht nur die Arbeitnehmer des Luftfrachtführers, sondern auch alle Personen, derer sich der Luftfrachtführer zur Ausführung der Beförderung bedient, sofern sie in Ausführung einer ihnen vom Luftfrachtführer übertragenen Verrichtung handeln; auf eine intensive Weisungsbefugnis des Luftfrachtführers kommt es dabei zwar nicht an, es müssen ihm aber doch Einwirkungsmöglichkeiten auf diese Personen zustehen. In der deutschen Literatur wird dazu bisweilen auch der Flughafenbetreiber gezählt; dies va dann, wenn er die Einsteige-Anlagen betreibt (gegenteilig jedoch LG Köln VersR 1981, 90). In Österreich besteht zu dieser Frage bislang keine Rsp. In der Literatur hat erst jüngst Rihs die Frage insbesondere hinsichtlich der Räumung von Bewegungsflächen verneint.

 

Es ist im Revisionsverfahren nicht strittig, dass die Zweitbeklagte für den Betrieb der Pisten und deren Räumung verantwortlich war. Allerdings hat der Luftfrachtführer nur für „Leute“ einzustehen, die in Ausführung einer ihnen vom Luftfrachtführer übertragenen Verrichtung handeln; liegen deren Tätigkeiten hingegen im Interesse des Ablaufs des allgemeinen Flugverkehrs auf dem Flughafen, kann eine solche Verrichtung nicht angenommen werden.

 

Folgerichtig zählen Literatur und Rsp (in Deutschland) etwa die Flugsicherung, den Flugwetterdienst, den Flugleiter bei Ausübung der Luftaufsicht und die Sicherheitsbehörden nicht zu den Leuten iSd § 19 Satz 2 MÜ, wohl aber das für den Luftfrachtführer tätig werdende Abfertigungspersonal anderer Luftfrachtführer, den Fluggast-Vorfeld-Beförderer oder den am Flughafen eingerichteten Treibstofflieferanten. Der wesentliche Unterschied besteht va darin, dass der Luftfrachtführer auf letztere Einfluss nehmen kann, während etwa Flugsicherung, aber eben auch die Pistenräumung seiner Einflussnahme entzogen sind. Der erkennende Senat schließt sich somit der vom LG Köln (VersR 1981, 90) vertretenen Rechtsansicht an; ist der Flughafenbetreiber für die Räumung der Pisten verantwortlich, zählt er insoweit nicht zu den Leuten des Luftfrachtführers.

 

Für Österreich ist diese Auffassung insbesondere auch durch § 6 Zivilflugplatz-Betriebsordnung - ZFBO (BGBl 610/1986) zu begründen. Danach hat der Halter eines öffentlichen Zivilflugplatzes ua dafür zu sorgen, dass während der Betriebszeiten die Bewegungsflächen des Zivilflugplatzes (das sind gem § 1 Zivilflugplatz-Verordnung BGBl 313/1972 jene Teile von Land- und Wasserflugplätzen, die für die Bewegung von Luftfahrzeugen auf dem Boden [Wasser] bestimmt sind), wozu auch Start- und Landepisten gehören, in betriebsbereitem Zustand verfügbar sind. Die dazu notwendigen Tätigkeiten werden also im Interesse des Ablaufs des allgemeinen Flugverkehrs auf dem Flughafen und nicht in Erfüllung einer dem Flughafenbetreiber vom Luftfrachtführer übertragenen Verrichtung ausgeführt. Auch Rihs geht daher davon aus, dass etwa das Räumen der Bewegungsflächen zu jenen Dienstleistungen des Flughafenbetreibers gehört, die dieser allein aufgrund seiner Betriebspflichten und nicht etwa aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung erbringt, weshalb sie keiner Weisungsbefugnis durch den Luftfrachtführer unterliegen und weshalb der Flughafenbetreiber nicht zu den Leuten des Luftfrachtführers iSd Art 19 Satz 2 MÜ gehört.

 

Abgesehen davon, dass sich der Klägerin bereits im zweitinstanzlichen Verfahren ausdrücklich nur auf den „Leute“-Begriff des Art 19 Satz 2 MÜ gestützt hat (im Unterschied zum Erfüllungsgehilfenbegriff nach § 1313a ABGB), ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Begriff „Leute“ vertragsautonom auszulegen ist und daher nicht iSd § 1313a ABGB interpretiert werden darf. Dies gilt insbesondere für die Frage der Weisungsbefugnis.

 

Soweit der Kläger im Revisionsverfahren der Erstbeklagten vorwirft, nicht rechtzeitig einen anderen Flugzeugtyp gewählt zu haben, mit dem früher gestartet hätte werden können, entfernt er sich von seinem erstinstanzlichen Vorbringen.

 

Damit war aber hinsichtlich der Erstbeklagten die abweisliche Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

 

Das Berufungsgericht hat ein eigenes Vertragsverhältnis zwischen Kläger und Zweitbeklagter angenommen.

 

Nach deutscher Literatur ist der Flughafen verpflichtet, den Fluggästen gegenüber die Einrichtungen vorzuhalten und zu betreiben, die ihre Beförderung durch den Luftfrachtführer ermöglichen und die zwangsläufig mit dem Betrieb des Flughafens zusammenhängen. Dafür kassiere der Flughafen die Fluggastgebühr, die der Luftfrachtführer zusammen mit dem Flugpreis einhebt und an den Flughafen abführt. Die unzureichende Vorhaltung von Resourcen gegen witterungsbedingte Flugverspätungen sei dabei vom Schutzbereich dieses Vertrags umfasst. Erst jüngst hat allerdings Sigl auch für die deutsche Rechtslage ein Vertragsverhältnis zwischen Flugplatzbetreiber und Fluggast bei Verspätungsschäden verneint. Dieser Auffassung folgt für Österreich Rihs.

 

Nach dem Anhang zum Flughafen-Bodenabfertigungsgesetz BGBl 97/1998 umfasst die Fluggastabfertigung die gesamte Fluggastbetreuung beim Abflug, bei der Ankunft, während des Transits oder bei Anschlussflügen, insbesondere die Kontrolle der Flugscheine und der Reiseunterlagen sowie die Registrierung des Gepäcks und dessen Beförderung bis zu den Sortieranlagen. Dem gegenüber ist die widmungsgemäße Nutzung jener Flächen, die vom Flugplatzbetreiber für die Zwecke der Luftfahrt (verpflichtend) betrieben und vorgehalten werden, den Luftverkehrsunternehmen vorbehalten; Kontrahierungszwang, Betriebs- und Vorhaltepflichten bestehen ausschließlich gegenüber den Luftverkehrsunternehmen, die Abstell- und Bewegungsflächen zur Abwicklung der Beförderungsverträge nützen. Zuletzt kann auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Fluggastgebühren vom Flugplatzbetreiber gegenüber den Luftverkehrsunternehmen eingehoben werden.

 

Aus all dem folgt aber für die österreichische Rechtslage, dass zwar zwischen dem Luftfrachtführer und dem Flugplatzbetreiber, nicht aber zwischen letzterem und dem Fluggast ein Vertragsverhältnis angenommen werden kann, welches einem Schadenersatzanspruch infolge Verspätung eines Fluges aufgrund mangelhafter Räumung der Bewegungsflächen zugrundegelegt werden könnte.

 

Der OGH hat zwar bereits entschieden (7 Ob 738/80 SZ 53/169), dass der soeben erwähnte Vertrag zwischen Luftfrachtführer und Flugplatzbetreiber auch Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber Vertragspartnern des Luftfrachtführers entfalten kann, also gegenüber den Fluggästen; diese Entscheidung bezog sich jedoch auf einen Sturzunfall, den ein Fluggast auf dem Weg vom Flughafengebäude zum Flugzeug erlitten hatte. Ob ein derartiger Vertrag zugunsten Dritter Schutz- und Sorgfaltspflichten auch dann auslöst, wenn es zu einer mangelhaften Räumung der Bewegungsflächen für die Flugzeuge und deshalb zu einem verspäteten Abflug eines Flugzeugs kommt, braucht hier jedoch nicht erörtert zu werden (verneinend Sigl), weil der Kläger ausschließlich einen Vermögensschaden geltend macht; im Übrigen hat er sich auch weder im Verfahren erster Instanz noch in seiner Berufung auf eine derartige Anspruchsgrundlage gestützt.