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19.02.2013 Zivilrecht

OGH: Beschränkung der Luftfrachtführerhaftung nach dem Montrealer Übereinkommen – zur Frage, ob der Luftfrachtführer den Reisenden auf die Möglichkeit einer Wertdeklaration hinzuweisen hat

Eine Verpflichtung des Luftbeförderers, den Reisenden beim Einchecken oder bei Abschluss des Beförderungsvertrags auf die Möglichkeit einer Interessendeklaration hinzuweisen, ergibt sich aus dem Montrealer Übereinkommen nicht; da Art 29 MÜ ausdrücklich auch Schadenersatzansprüche ua aus „Vertrag“ regelt, erfasst er auch etwaige - nach dem anwendbaren nationalen Recht gegebene - vertragliche Nebenpflichten, zB die Aufklärung über die Möglichkeit der Wertdeklaration; daraus resultierende etwaige Schadenersatzansprüche können demnach nur „unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen“ des Montrealer Übereinkommens geltend gemacht werden


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Luftfrachtführer, Haftung, Haftungshöchstgrenze, Wertdeklaration, keine Aufklärungspflicht
Gesetze:

Art 17 MÜ, Art 22 MÜ, Art 29 MÜ, §§ 1295 ff ABGB

GZ 10 Ob 47/12b [1], 17.12.2012

 

OGH: Sowohl Österreich als auch der Libanon sind Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28. 5. 1999 („Montrealer Übereinkommen“ - „MÜ“) - BGBl III 2004/131, dem auch die Europäische Union beigetreten ist. Dieses Übereinkommen geht dem Warschauer Abkommen vor (Art 55 Z 1 lit a MÜ), es wurde von Österreich mit Wirkung vom 28. 6. 2004 ratifiziert und ist damit Teil des innerstaatlichen Rechts. Es ist auf die - im vorliegenden Fall zu beurteilende - Beförderung von Reisegepäck in einem Luftfahrzeug zwischen Österreich und dem Libanon anwendbar (Art 1 Abs 1 MÜ).

 

Der Zweck des Montrealer Übereinkommens liegt darin, durch gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen (Abs 5 der Präambel zum MÜ). Wie sich bereits aus der Bezeichnung ergibt („Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr“) werden darin bestimmte Ansprüche aus der Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags (nämlich Personenschäden, Verspätung, Verlust, Verspätung und Beschädigung von Gütern und Reisegepäck) geregelt.

 

Der Reisende ist schriftlich darauf hinzuweisen, dass dieses Übereinkommen, soweit es Anwendung findet, in diesen Fällen die Haftung regelt und beschränken kann (Art 3 Abs 4 MÜ). Die Nichtbeachtung berührt aber weder den Bestand noch die Wirksamkeit des Beförderungsvertrags; dieser unterliegt gleichwohl den Vorschriften dieses Übereinkommens einschließlich derjenigen über die Haftungsbeschränkung (Art 3 Abs 5 MÜ).

 

Der Luftfrachtführer verpflichtet sich durch den Luftbeförderungsvertrag gegenüber dem Reisenden, diesen sowie dessen Gepäck an den vereinbarten Bestimmungsort zu bringen. Wenngleich das Montrealer Übereinkommen den der Beförderung der Gepäckstücke zu Grunde liegenden Vertragstypus nicht regelt, wird er als akkzessorischer Gepäckbeförderungsvertrag gesehen, in welchem sich der Luftfrachtführer verpflichtet, das Gepäckstück an den vereinbarten Ort zu bringen und es zugleich in Obhut nimmt, also es gegen Verlust und Beschädigung zu schützen hat.

 

Art 17 Abs 2 MÜ enthält die grundlegenden Haftungsnormen für Gepäckschäden. Geregelt werden Schadenersatzansprüche infolge Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck. Der Luftfrachtführer hat einen derartigen Schaden zu ersetzen, wenn das Ereignis, durch das die Zerstörung, der Verlust oder die Beschädigung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder während eines Zeitraums eingetreten ist, in dem sich das aufgegebene Reisegepäck in der Obhut des Luftfrachtführers befand. Bei aufgegebenem Gepäck iSd Art 17 Abs 2 MÜ, also Gegenständen, die der Reisende dem Luftfrachtführer vor oder bei Reiseantritt in dessen Obhut gegeben hat, besteht somit eine verschuldensunabhängige Haftung. Der Ersatzanspruch ist aber grundsätzlich auf den in Art 22 Abs 2 MÜ näher genannten Haftungshöchstbetrag beschränkt.

 

Diese Beschränkung gilt nicht, wenn der Reisende bei der Übergabe des aufgegebenen Reisegepäcks an den Luftfrachtführer das Interesse an der Ablieferung am Bestimmungsort angegeben und den verlangten Zuschlag entrichtet hat („Wertdeklaration“). In diesem Fall hat der Luftfrachtführer bis zur Höhe des angegebenen Betrags Ersatz zu leisten, sofern er nicht nachweist, dass dieser höher ist als das tatsächliche Interesse des Reisenden an der Ablieferung am Bestimmungsort. Der EuGH führt zu Art 22 Abs 2 MÜ aus, dass der Reisende die Möglichkeit habe, bei der Übergabe des aufgegebenen Reisegepäcks an das Luftunternehmen das Interesse betragsmäßig anzugeben. Diese Möglichkeit bestätige, dass es sich - sofern keine Angaben gemacht wurden - beim Haftungshöchstbetrag, den das Luftfahrtunternehmen für Schäden, die durch den Verlust von Reisegepäck eintreten, nach dieser Bestimmung zu zahlen habe, um einen absoluten Haftungshöchstbetrag handle, der sowohl materiellen als auch den immateriellen Schaden abdecke.

 

Nach der zur inhaltsähnlichen Regelung des Art 22 Abs 3 MÜ ergangenen Entscheidung 7 Ob 111/12t ist die Interessen- oder Wertdeklaration zunächst ein einseitiger Akt des Absenders bei Übergabe des Gepäckstücks (Frachtguts) an den Luftfrachtführer. Nimmt dieser den Transportauftrag auf Grundlage des bekanntgegebenen Auftragswerts an, wird damit konkludent das betragsmäßige Interesse des Absenders an der Ablieferung am Bestimmungsort Grundlage des Luftbeförderungsvertrags und ist damit vereinbart. Die Durchführung des Transportauftrags durch den Luftfrachtführer, der den Transportauftrag mit dem bekannt gegebenen Auftragswert annahm, führt zur schlüssigen Vereinbarung der Wert- und Interessendeklaration gem Art 22 Abs 3 MÜ.

 

Eine Verpflichtung des Luftbeförderers, den Reisenden beim Einchecken oder bei Abschluss des Beförderungsvertrags auf die Möglichkeit einer Interessendeklaration hinzuweisen, ergibt sich aus dem Montrealer Übereinkommen nicht. Der Revisionswerber will eine diesbezügliche Verpflichtung des Luftbeförderers aber aus dem - seinem Vorbringen nach anwendbaren - nationalen (österreichischen) Recht ableiten.

 

Nach österreichischem Recht lässt - soferne anwendbar - der Abschluss eines Vertrags nicht bloß die Hauptpflichten entstehen, die für die betreffende Vertragstype charakteristisch sind, sondern erzeugt eine Reihe von Nebenpflichten, zu denen auch die Schutz- und Sorgfaltspflichten gehören. Der Schuldner hat die geschuldete Hauptleistung nicht nur zu erbringen, sondern er hat sie so sorgfältig zu bewirken, dass alle Rechtsgüter des Gläubigers, mit denen er in Berührung kommt, nach Tunlichkeit vor Schaden bewahrt und geschützt bleiben.

 

Das Verhältnis der nach den Art 17 ff MÜ bestehenden Schadenersatzansprüche innerhalb des Übereinkommens zu den Schadenersatzansprüchen nach nationalem Recht regelt Art 29 MÜ. Nach Art 29 MÜ kann bei der Beförderung von Reisegepäck ein Anspruch auf Schadenersatz - auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund - nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind. Die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte zustehen, wird hiedurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder, eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadenersatz ausgeschlossen.

 

Diese Bestimmung übernimmt (in leicht verändertem Wortlaut) im Wesentlichen die Regelung des Art 24 des Warschauer Abkommens (WA), BGBl 1961/286. Bereits zu Art 24 WA wurde die Auffassung vertreten, dass im Fall einer Haftung des Luftfrachtführers nach dem Warschauer Abkommen eine Haftung nach anderen Vorschriften grundsätzlich ausgeschlossen sein solle. Der Ausschluss erfasst jede andere Haftungsnorm, aus der der Luftfrachtführer wegen der in den Art 17-19 bezeichneten Schäden in Anspruch genommen werden könnte. An diesem grundsätzlichen Verständnis will das Montrealer Übereinkommen nichts ändern.

 

Auch Art 29 MÜ unterwirft auf anderen Rechtsgründen beruhende Schadenersatzansprüche den Voraussetzungen und Beschränkungen des Montrealer Übereinkommens. Im Interesse des Gleichklangs dürfen dem nationalen Recht keine weitergehenden Ersatzansprüche entnommen werden, als die Art 17 ff MÜ gewähren. Ist Art 17 MÜ anwendbar, ist ein Rückgriff auf nationales ergänzendes Recht unzulässig. Es soll für die Haftungsordnung des Montrealer Übereinkommens ein absoluter Vorrang geschaffen und verhindert werden, dass dessen Haftungsregelungen durch nationale Anspruchsgrundlagen „überspielt“ werden. Die im Übereinkommen für vertragliche Ansprüche vorgesehene Haftungsbeschränkung soll nicht dadurch umgangen werden können, dass die Schadenersatzansprüche auf eine andere Rechtsgrundlage als Vertrag, also etwa auf Delikt, gestützt werden.

 

Nach den (österreichischen) Gesetzesmaterialien zum Übereinkommen soll das Haftungsregime dem Geschädigten nicht einen Mindestersatz, sondern einen angemessenen, international einheitlichen Ersatzanspruch garantieren, der im Interesse des Luftfrachtführers an der Kalkulierbarkeit des Risikos nicht überschritten wird. Insoweit kommt dem Montrealer Übereinkommen Anwendungsvorrang vor den innerstaatlichen Schadenersatzbestimmungen und den innerstaatlichen Regelungen über den Verwahrungsvertrag zu.

 

Andere (nationale) Anspruchsgrundlagen sind durch Art 29 nur innerhalb des Regelungsbereichs des Montrealer Übereinkommens ausgeschlossen. Schadenersatzansprüche aus anderen - vom Montrealer Übereinkommen nicht geregelten Schäden - bleiben von der „Sperrwirkung“ des Art 29 MÜ hingegen unberührt. Dort, wo der Schaden nicht die Form eines Personen-, Güter- oder Verspätungsschadens angenommen hat und für eine Haftungsbegrenzung keine Rechtfertigung besteht, soll der Geschädigte uneingeschränkt auf das nationale Schadenersatzrecht zurückgreifen können. So ist etwa davon auszugehen, dass das Montrealer Übereinkommen eine Lebensmittelvergiftung durch an Bord gereichtes verdorbenes Essen - somit einen nicht unfallbedingten Personenschaden - weiterhin nach dem anwendbaren nationalen Recht ausgeglichen wissen wollte. Zu denken ist ua auch an Schadenersatzansprüche gegen den Luftfrachtführer wegen Nichterfüllung des Frachtvertrags, auf Rückerstattung des Frachtlohns einschließlich dessen Minderung, wegen Frachtgutschäden außerhalb des Obhutszeitraums. Es soll vermieden werden, dass Schäden, deren Ersatz das Montrealer Übereinkommen nicht regelt, sowohl nach diesem als auch nach nationalem Recht folgenlos blieben.

 

Zu der in der Revision aufgeworfenen Frage, ob das Montrealer Übereinkommen auch Ansprüche aus der Verletzung vorvertraglicher Pflichten reguliert, wird in der österreichischen Lehre und im deutschen Schrifttum Koller die Ansicht vertreten, Art 29 MÜ sei dahin auszulegen, dass nur solche konkurrierenden Ansprüche verdrängt werden, die unmittelbar mit der Obhut des Luftfrachtführers über das Gut oder mit der Verursachung einer Verspätung zusammenhängen, nicht aber Ansprüche wegen culpa in contrahendo. Folge man der Ansicht, dass das Montrealer Übereinkommen nur jene Schäden regelt, die unmittelbar durch ein Risiko, das mit der fremden Obhut des Luftfrachtführers über das Gut verbunden sind, wäre nach der Ansicht Csoklichs auch die Verletzung nebenvertraglicher Sorgfalts- und Aufklärungpflichten, etwa durch mangelhafte Aufklärung über den Verlauf des Transports, nach dem jeweils anwendbaren nationalen Recht zu beurteilen.

 

Dieser Ansicht vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Wegen des bereits perfekten Beförderungsvertrags käme im vorliegenden Fall allenfalls die Verletzung vertraglicher Neben-(Sorgfalts- und Aufklärungs-)Pflichten in Betracht. Die Anwendung des österreichischen Rechts wäre aber ausgeschlossen:

 

Im Montrealer Übereinkommen werden bestimmte Lebenssachverhalte (ua die Beschädigung und der Verlust von aufgegebenem Reisegepäck) geregelt, wobei an den Eintritt des Schadens und nicht an die Pflichtverletzung oder die Anspruchsgrundlage angeknüpft wird. Ansprüche auf Schadenersatz anlässlich der Beförderung von Reisegepäck - auf welchem Rechtsgrund sie auch beruhen, sei es auch ein Vertrag, sollen nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind (Art 29 MÜ). Jede andere Haftungsnorm, aus der der Luftfrachtführer wegen desselben wirtschaftlichen Schadens in Anspruch genommen werden kann, soll also ausgeschlossen sein. Die (gegenteilige) Rechtsauffassung des Klägers würde dazu führen, dass der - wirtschaftlich gesehen - selbe Schaden durch Heranziehung einer anderen Anspruchsgrundlage (der Verletzung nebenvertraglicher Schutz- und Sorgfaltspflichten) über die Haftungshöchstgrenzen des Art 22 Abs 2 MÜ hinaus entschädigt wird. Dadurch würde aber die in Art 22 Abs 2 MÜ enthaltene Haftungsbeschränkung unterlaufen. Da Art 29 MÜ - in Erweiterung des Textes des Art 24 WA - ausdrücklich auch Schadenersatzansprüche ua aus „Vertrag“ regelt, erfasst er auch etwaige - nach dem anwendbaren nationalen Recht gegebene - vertragliche Nebenpflichten, zB die Aufklärung über die Möglichkeit der Wertdeklaration. Daraus resultierende etwaige Schadenersatzansprüche können demnach nur „unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen“ des Montrealer Übereinkommens geltend gemacht werden.

 

Die Abweisung des über die Haftungshöchstgrenze des Art 22 Abs 2 MÜ hinausgehenden Klagebegehrens durch die Vorinstanzen erweist sich daher als zutreffend.