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01.04.2013 Zivilrecht

OGH: Auffahrunfall auf Autobahn nach Fahrstreifenwechsel des vorderen Fahrzeugs (eines Kastenwagens) und damit einhergehende Beschränkung der Wahrnehmung des sich davor entwickelnden Verkehrsgeschehens

Der aus der Schutznorm des § 20 Abs 1 StVO abgeleitete Grundsatz des Fahrens auf Sicht bedeutet, dass ein Fahrzeuglenker seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen hat, dass er sein Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig zum Stehen bringen oder zumindest das Hindernis umfahren kann


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Verkehrsrecht, Fahren auf Sicht, Autobahn, Fahrspurwechsel, Beschränkung der Wahrnehmung des sich davor entwickelnden Verkehrsgeschehens
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 20 StVO, § 18 StVO

GZ 2 Ob 227/12i [1], 14.03.2013

OGH: Der aus der Schutznorm des § 20 Abs 1 StVO abgeleitete Grundsatz des Fahrens auf Sicht bedeutet, dass ein Fahrzeuglenker seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen hat, dass er sein Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig zum Stehen bringen oder zumindest das Hindernis umfahren kann. Jeder Kraftfahrer muss daher seine Fahrweise so gestalten, dass der Weg des abzubremsenden Fahrzeugs in der Zeit vom Erkennen eines Hindernisses auf der Fahrbahn bis zum vollen Stillstand des Fahrzeugs nie länger als die durch ihn eingesehene Strecke ist. Diese Pflicht besteht auch auf Autobahnen.

Dem Erstbeklagten, der auf der Südautobahn auf der nach Wien führenden Richtungsfahrbahn in einer „geschlossenen“ Kolonne fuhr, wurde nach dem Fahrstreifenwechsel eines Kastenwagens vorübergehend die Sicht auf das sich vor diesem entwickelnde Verkehrsgeschehen genommen. Dennoch behielt er seine Fahrgeschwindigkeit von ca 70 km/h bei. Als er nach einem weiteren Fahrstreifenwechsel des Kastenwagens wieder Sicht auf das Klagsfahrzeug erlangte, wurde dieses wie auch dessen Vorderfahrzeuge gerade zum Stillstand gebracht. Trotz einer sofort eingeleiteten Vollbremsung vermochte der Erstbeklagte seine Geschwindigkeit bis zum Anstoß auf das Klagsfahrzeug nur noch auf 30 km/h zu vermindern. Hätte er bereits auf den ersten Fahrstreifenwechsel des Kastenwagens mit einer geringfügigen Geschwindigkeitsreduktion reagiert, wäre es ihm möglich gewesen, eine ausreichende Sichtstrecke aufzubauen und den Unfall zu verhindern.

Dem Berufungsgericht ist im Ergebnis keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung unterlaufen, wenn es bei dieser Sachlage - wenngleich unter dem Aspekt des § 18 StVO - zu der Auffassung gelangte, dass den Erstbeklagten das Verschulden an dem Auffahrunfall traf. Diese Rechtsansicht hält sich im Rahmen der zitierten Rsp und ist jedenfalls vertretbar.