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03.06.2013 Zivilrecht

OGH: Zu den Sorgfaltsanforderungen, die ein Straßenbahnfahrer bei der Räumung einer Kreuzung gegenüber Fußgängern zu erfüllen hat, die vor einem den Gleiskörper querenden, ampelgeregelten Fußgängerübergang stehen

Deuten Anzeichen darauf hin, dass der Fußgänger die Fahrbahn überqueren könnte, so muss der Kraftfahrer darauf durch Herabsetzung der Geschwindigkeit oder Abgabe eines Warnsignals reagieren, um dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG zu entsprechen; diese Verhaltensregeln gelten auch für Straßenbahnfahrer


Schlagworte: Schadenersatzrecht, EKHG, unabwendbares Ereignis, Straßenbahnfahrer, Sorgfaltsanforderungen, Fußgänger, Räumung einer Kreuzung, Mitverschulden
Gesetze:

§ 9 EKHG, § 7 EKHG, §§ 1295 ff ABGB, § 1304 ABGB, § 76 StVO

GZ 2 Ob 68/13h [1], 25.04.2013

 

OGH: Die (sich aus der Bejahung eines unabwendbaren Ereignisses gem § 9 EKHG ergebende implizite, vgl RIS-Justiz RS0058425 [T4]) Beurteilung des Berufungsgerichts, die Straßenbahnfahrerin treffe kein Verschulden, wird in der Revision nicht bekämpft, sodass darauf nicht einzugehen ist, zumal schon in der Berufung ein Verschulden der Straßenbahnfahrerin nicht (mehr) behauptet wurde.

 

Zutreffend hat das Berufungsgericht ein Verschulden der Klägerin bejaht. Nach oberstgerichtlicher Rsp gilt die Verpflichtung des Kraftfahrers, den bei Grünlicht einfahrenden Fahrzeugen des Querverkehrs, die auf der Kreuzung vom Phasenwechsel überrascht werden und die Kreuzung nicht mehr rechtzeitig verlassen können, die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen, sinngemäß auch für Fußgänger.

 

Verfehlt ist aber die berufungsgerichtliche Beurteilung, für die Beklagte liege ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG vor. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nach dieser Gesetzesbestimmung ua insbesondere dann, wenn es auf das Verhalten des Geschädigten zurückzuführen ist, sowohl der Betriebsunternehmer oder Halter als auch die mit Willen des Betriebsunternehmers oder Halters beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben und der Unfall nicht unmittelbar auf die durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist.

 

Die Rsp hat dazu folgende Grundsätze aufgestellt:

 

Unter dem Begriff „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt“ ist die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen. An die nach § 9 Abs 2 EKHG gebotene Sorgfalt sind die strengsten Anforderungen zu stellen. Es muss alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte. Die nach § 9 Abs 2 EKHG gebotene äußerste Sorgfalt ist dann beobachtet, wenn der Fahrzeuglenker eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende, besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat, die zB auch die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet. Die erhöhte Sorgfaltspflicht, deren Beachtung den Unfall als unabwendbares Ereignis erscheinen lässt, setzt nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlangt, dass von vornherein vermieden wird, in eine Lage zu kommen, aus der Gefahr entstehen kann.

 

Ein Fahrzeuglenker, der bei Grünlicht in die Kreuzung einfuhr, in ihr aber aufgehalten wurde, darf zwar selbst dann, wenn für ihn bereits Rotlicht gilt, weiterfahren, muss aber besonders vorsichtig fahren und auf den möglichen einsetzenden Querverkehr achten. Diese Verhaltensregel ist auch für einen Straßenbahnfahrer maßgeblich.

 

Ein verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern stellt für den Lenker eines Kfz dann ein unabwendbares Ereignis dar, wenn er nach den konkreten Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall auch bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern konnte. Deuten aber Anzeichen darauf hin, dass der Fußgänger die Fahrbahn überqueren könnte, so muss der Kraftfahrer darauf durch Herabsetzung der Geschwindigkeit oder Abgabe eines Warnsignals reagieren, um dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG zu entsprechen. Auch diese Verhaltensregeln gelten auch für Straßenbahnfahrer.

 

Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, kann keine Rede davon sein, die Straßenbahnfahrerin habe dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs 2 EKHG entsprochen: Insbesondere da sie schon zwei Monate diese Strecke fuhr, mussten ihr die Gefahren der weiträumigen Kreuzung bekannt sein. Daher musste sie auch wissen, dass bei Einfahrt in die Kreuzung gegen Ende der Grünphase für die Straßenbahn angesichts des - sehr lang dauernden - Überquerens der Kreuzung der Querverkehr (der Fußgänger) noch vor dem Räumen der Kreuzung durch die Straßenbahn grün bekommen konnte und daher mit der Gefahr querender Fußgänger zu rechnen war. Wie groß diese Gefahr war, zeigt auch der Umstand, dass neben der Klägerin auch andere Fußgänger im Begriff waren loszugehen und nur durch einen Schritt zurück der Straßenbahn ausweichen konnten. Als geeignete und hier nach den Feststellungen auch unfallvermeidende Gegenmaßnahme hätte sie bei äußerster Sorgfalt „bimmeln“ können und müssen, und zwar nicht (wie die Beklagte offenbar meint) erst bei Ansicht der losgehenden Klägerin, sondern in Annäherung an den Schutzweg früh genug, um die dort stehenden Fußgänger rechtzeitig zu warnen.

 

Verschulden des einen Unfallbeteiligten und (bloß) gewöhnliche Betriebsgefahr des anderen Unfallbeteiligten sind gem § 7 EKHG gegeneinander abzuwägen. Im Allgemeinen wird in solchen Fällen eine Schadensteilung von 1 : 3 oder 1 : 2 zulasten desjenigen, den ein Verschulden trifft, vorgenommen.

 

Im vorliegenden Fall ist das Verschulden der Klägerin nur als gering einzustufen, weil die für sie geltende Fußgängerampel bereits grün zeigte und sie daher - abgesehen von die Kreuzung räumenden Fahrzeugen und abgesehen von Einsatzfahrzeugen - grundsätzlich berechtigt war, die Fahrbahn zu überqueren. Andererseits ist die von der Straßenbahn in einem solchen Fall des späten Räumens ausgehende Betriebsgefahr auch angesichts der großen Masse der Straßenbahn und deren Unmöglichkeit auszuweichen nicht zu unterschätzen.

 

Der Senat hält daher hier eine Schadensteilung von 2 : 1 zulasten der Klägerin für angemessen.