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05.08.2013 Zivilrecht

OGH: § 28 Abs 2 und § 62 StVO – zur zulässigen Beeinträchtigung des Straßenbahnverkehrs durch Ladetätigkeiten im Bereich einer Baustelle (hier: Sonderkonstellation, in der die Umkehrschleife einer Straßenbahn zumindest teilweise innerhalb eines Baustellenbereichs verläuft und ein LKW-Lenker Baumaterial für die Gleisbauarbeiten zu liefern und abzuladen hatte)

Die Rechtsansicht, die Straßenbahnfahrerin hätte das „Auswandern“ des Heckbereichs des Straßenbahnzugs bedenken und sich von der Möglichkeit ungehinderten Vorbeifahrens an dem Lkw vergewissern müssen, entspricht der Rsp in vergleichbaren Fällen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Schienenfahrzeuge, Vorrang, Ladetätigkeiten im Bereich einer Baustelle, Mitverschulden, vernachlässigbares Verschulden
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 28 StVO, § 62 StVO, § 1304 ABGB

GZ 2 Ob 152/12k [1], 07.05.2013

 

OGH: § 28 Abs 2 Satz 1 StVO dient im Allgemeinen nicht nur der Sicherheit, sondern auch der Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs mit Schienenfahrzeugen. Die Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, dass die an Gleise gebundenen Fahrzeuge nicht ausweichen können und überdies idR ein geringeres Bremsvermögen haben.

 

Andererseits sollen sich Bauarbeiter und Baufahrzeuge im Baustellenbereich den durchzuführenden Bauarbeiten und dem Baufortschritt entsprechend frei bewegen können, ohne auf weitere, die Verkehrsfläche befahrende Verkehrsteilnehmer achten zu müssen. Es liegt nahe, dass dies nicht nur für Baufahrzeuge, sondern auch für die den Baustellenbereich befugt befahrenden Lieferanten von Baumaterial gelten soll.

 

Die hier zu beurteilende Sonderkonstellation, in der die Umkehrschleife der Straßenbahn zumindest teilweise innerhalb des Baustellenbereichs verlief, lässt keine allgemein gültige Aussage iSd Zulassungsbegründung des Berufungsgerichts zu. Maßgeblich sind vielmehr stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. Kommt es zu wechselseitigen Behinderungen, so ist gegenseitige Rücksichtnahme erforderlich, die sich nach den gerade vorherrschenden Verhältnissen richten muss. Unter diesen Umständen ist es auch nicht von entscheidender Bedeutung, ob und welche Normen der StVO zur Anwendung gelangen, insbesondere ob das Verhalten des Erstbeklagten eher nach § 23 Abs 1 oder nach § 28 Abs 2 StVO oder nach keiner dieser Bestimmungen zu beurteilen ist.

 

Die Verschuldensabwägung richtet sich stets nach den besonderen Umständen des Einzelfalls und begründet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO. Dies gilt auch für die Frage, ob ein geringes Verschulden noch vernachlässigt werden kann.

 

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Straßenbahnfahrerin hätte das „Auswandern“ des Heckbereichs des Straßenbahnzugs bedenken und sich von der Möglichkeit ungehinderten Vorbeifahrens an dem Lkw vergewissern müssen, entspricht der Rsp in vergleichbaren Fällen; sie wirft daher keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

 

Für den Erstbeklagten war hingegen das Ausmaß des „Auswanderns“ des Heckbereichs der Straßenbahn während der Einfahrt in die Umkehrschleife kaum abschätzbar. Bei Herannahen der Straßenbahn hatte er seine Halteposition so weit wie möglich nach vorne versetzt. Außerdem war für ihn erkennbar, dass der für diese Aufgabe zuständige „Security-Mitarbeiter“ die Einweisung der Straßenbahnfahrerin übernommen hatte. Vorwerfbar wäre ihm somit allenfalls, dass er bei der Wahl seiner ursprünglichen (dann veränderten) Halteposition seine Ausweichmöglichkeiten nicht richtig eingeschätzt hat.

 

Jedenfalls vertretbar ist die Auffassung des Berufungsgerichts, dass das Handzeichen des Erstbeklagten, mit dem er die aus seiner Sicht mögliche Weiterfahrt der Straßenbahn signalisierte, kein (weiteres) Verschuldenselement zu seinen Lasten begründe. Soweit in der Revision von einer Garantenstellung des Erstbeklagten und dem Ingerenzprinzip die Rede ist, scheint die klagende Partei die Entscheidung 2 Ob 44/08x vor Augen zu haben, die jedoch das einem Kind gegebene Handzeichen zum Überqueren der Fahrbahn betraf. Dieser Sachverhalt ist mit dem gegenständlichen Fall nicht vergleichbar.

 

Feststellungen, die eine Zurechnung des „Security-Mitarbeiters“ (Einweisers) zu den beklagten Parteien rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.

 

Dem Berufungsgericht ist keine vom OGH aufzugreifende gravierende Fehlbeurteilung unterlaufen, wenn es angesichts der konkreten Situation auf der Baustelle und dem Verhalten der Unfallbeteiligten das der klagenden Partei zuzurechnende Verschulden als weit überwiegend, den Verschuldensanteil des Erstbeklagten hingegen als vernachlässigbar gering erachtete.