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07.10.2013 Zivilrecht

OGH: Zur (partiellen) Geschäftsunfähigkeit iSd § 865 ABGB (iZm Krebserkrankung)

Würde bloß eingeschränkte Kredit- und Urteilsfähigkeit ausreichen, würde dies letztlich dazu führen, dass nahezu alle Menschen mit schweren lebensbedrohlichen Erkrankungen, aber auch mit gravierenden familiären Problemen, schwerem Burn-out, Arbeitsplatzverlust etc als geschäftsunfähig anzusehen wären


Schlagworte: Dauernde / partielle Geschäftsunfähigkeit, Krebserkrankung, schwere lebensbedrohliche Erkrankungen
Gesetze:

§ 865 ABGB

GZ 6 Ob 44/13h [1], 28.08.2013

 

OGH: Die tatsächlichen Umstände und persönlichen Eigenschaften im Zeitpunkt der Abgabe einer Willenserklärung sind tatsächlicher Natur und irrevisibel. Die Schlussfolgerung, ob aufgrund dieser Umstände die Erklärungen des Revisionswerbers im vollen Gebrauch der Vernunft (§ 865 ABGB) abgegeben wurden, ist hingegen eine Rechtsfrage. Die Beurteilung, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt die Tragweite bestimmter Willenserklärungen verstandesmäßig erfassen konnte oder ob ihr diese Fähigkeit durch eine die Handlungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit ausschließende geistige Störung fehlte, ist grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls.

 

Nur derjenige ist (voll) geschäftsfähig, der die Tragweite und Auswirkungen seines Handelns abschätzen und dieser Einsicht gemäß disponieren kann. Die Handlungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit ist schon dann ausgeschlossen, wenn die normale Freiheit der Willensentschließung durch eine auch nur vorübergehende geistige Störung aufgehoben ist, mag auch noch die Fähigkeit, das Rechtsgeschäft verstandesmäßig zu erfassen, vorhanden sein. Geschäftsunfähigkeit ist nicht nur bei völliger Unfähigkeit zur Willensbildung gegeben; es reicht vielmehr aus, wenn eine durch Geisteskrankheit oder Geistesschwäche behinderte Person zur Willensbildung unfähig ist oder die Tragweite des konkreten Geschäfts nicht richtig abschätzen kann.

 

Eine bloße Gemütsaufregung reicht hingegen für Geschäftsunfähigkeit nicht aus. Mangelnde Einsichtsfähigkeit ist nur zu berücksichtigen, wenn sie in einem krankhaften Geistesgebrechen begründet ist.

 

Sogar kolossaler psychischer Druck, eine Einschränkung im Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl aufgrund reaktiv depressiver Störung und das Fehlen von Energie, eine Unterschriftsleistung abzulehnen, wurde als nicht ausreichend für Geschäftsunfähigkeit angesehen.

 

Als nicht ausreichend hat der OGH daher auch angesehen, wenn die Freiheit der Willensentschließung durch eine geistige Störung nur beeinträchtigt ist; dafür sei vielmehr erforderlich, dass der Rechtsgeschäftswille durch die geistige Störung „diktiert“ worden sei.

 

Geschäftsunfähig iSd § 865 ABGB sind aber nicht nur jene Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben und somit vollkommen unfähig sind, die Bedeutung rechtsgeschäftlicher Handlungen zu erkennen, sondern auch solche, die aufgrund Geisteskrankheit oder Geistesschwäche unfähig sind, die Tragweite eines bestimmten Geschäfts einzusehen. In diesem Fall spricht man von partieller Geschäftsunfähigkeit.

 

Für eine partielle Geschäftsunfähigkeit kommt es somit darauf an, ob der Beklagte bei der festgestellten Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in der Lage war, die Tragweite und die Auswirkungen des konkreten Rechtsgeschäfts abzuschätzen und dieser Einsicht gemäß zu disponieren.

 

Nach mehreren Entscheidungen ist Geschäftsunfähigkeit eines an geistigen Störungen leidenden Vertragschließenden schon dann gegeben, wenn das in Betracht kommende Geschäft von diesen geistigen Störungen „tangiert“ wurde. Die missverständliche Verwendung des Wortes „tangiert“ wurde im Schrifttum kritisiert.

 

Mit dieser Judikaturlinie war aber nie gemeint, dass es für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit ausreicht, wenn das in Betracht kommende Geschäft von der geistigen Störung in irgendeiner Form „berührt“ wurde. Vielmehr hat der OGH bereits in der Entscheidung 8 Ob 102/12a klargestellt, dass zwischen dem mangelnden Verständnis und der im Anlassfall vorliegenden Intelligenzminderung ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muss; dies sei mit der Formulierung gemeint, dass das Geschäft von der geistigen Störung „tangiert“ worden sei.

 

Voraussetzung ist daher, dass sich die geistige Störung bei dem konkreten Geschäft überhaupt auf die geistigen Fähigkeiten des Betroffenen ausgewirkt hat. Zusätzlich muss für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit iSd § 865 ABGB aber auch eine bestimmte Intensität der Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten des Betroffenen vorliegen, die dazu führt, dass der Betroffene im Ergebnis tatsächlich nicht mehr in der Lage war, die Bedeutung und Tragweite des konkreten Rechtsgeschäfts zu überblicken. Die Freiheit zur Willensentschließung muss durch die geistige Störung „aufgehoben“ und nicht nur „tangiert“ gewesen sein, um Geschäftsfähigkeit annehmen zu können. Ungültigkeit eines verpflichtenden Rechtsgeschäfts ist erst dann gegeben, wenn eine durch Geisteskrankheit oder Geistesschwäche bedingte vollkommene Unfähigkeit, die Tragweite eines bestimmten Geschäfts einzusehen, vorliegt.

 

Berücksichtigt man die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen iZm den Feststellungen des Erstgerichts, soweit diese keine Abänderung durch das Berufungsgericht erfuhren, so kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass sich der Zweitbeklagte in einem derartigen geistigen Zustand der Beeinträchtigung befand, dass er sein rechtsgeschäftliches Handeln überhaupt nicht mehr überblicken konnte. Geschäftsunfähigkeit liegt jedoch nur bei völliger Aufhebung der Freiheit der Willensentschließung in Ansehung des konkreten Geschäfts vor; eine nur teilweise Beeinträchtigung oder Motivierung der Willensentschließung durch die geistige Störung reicht dafür nicht aus.

 

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Zweitbeklagte in den Zeiträumen davor und danach ähnliche Geschäfte geschlossen hat und dem Abschluss der gegenständlichen Geschäfte jahrelange (somit auch nach dem Vorbringen des Zweitbeklagten nicht nur in die Zeit seiner angeblichen Geschäftsunfähigkeit fallende) Verhandlungen vorausgingen. All dies zeigt deutlich, dass dem Zweitbeklagten die Tragweite der abgeschlossenen Geschäfte bewusst war. Aus diesem Grund kann die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, der Beklagte sei zwischen 9. 2. 1994 und 6. 2. 1995 „nicht in der Lage, sein rechtsgeschäftliches Verhalten kritisch und realitätsbezogen abzuschätzen und abzuwägen“, nicht dahin verstanden werden, dass der Zweitbeklagte iSd von der Rsp entwickelten Grundsätze vollkommen unfähig gewesen wäre, die Tragweite der gegenständlichen Geschäfte zu beurteilen. Die gegenteilige Ansicht des Berufungsgerichts würde letztlich dazu führen, dass nahezu alle Menschen mit schweren lebensbedrohlichen Erkrankungen, aber auch mit gravierenden familiären Problemen, schwerem Burn-out, Arbeitsplatzverlust etc als geschäftsunfähig anzusehen wären, wenn die bloß eingeschränkte Kredit- und Urteilsfähigkeit ausreichen würde.