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12.04.2014 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Berufsschutz von Behinderten – zur Frage, ob in § 255 Abs 2 ASVG eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt bzw die Bestimmung verfassungswidrig ist

Auch wenn die Regelung des § 255 Abs 2 ASVG idF BBG 2011 Menschen mit Behinderung und nicht behinderte Menschen gleich behandelt, werden behinderte Menschen durch eine Nichterstreckung der Rahmenfrist um Zeiten des Bezugs einer Invaliditätspension insofern benachteiligt und damit diskriminiert, als sie aufgrund ihrer Invalidität während dieser Zeit keine Möglichkeit haben, Pflichtversicherungsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit zu erwerben und sie daher bei entsprechend langem Pensionsbezug Gefahr laufen, ihren Berufsschutz zu verlieren


Schlagworte: Invalidität, Berufsschutz von Behinderten
Gesetze:

§ 255 ASVG, § 3 BEinstG

GZ 10 ObS 12/14h [1], 25.02.2014

 

Der Kläger macht in seinem Rechtsmittel geltend, die Bestimmung des § 255 Abs 2 ASVG sei gleichheitswidrig. Er habe aufgrund seines Berufsschutzes und seiner gesundheitlichen Einschränkungen vom 1. 12. 2003 bis 30. 11. 2009 die Invaliditätspension bezogen und habe daher gar nicht die Möglichkeit gehabt, in diesem Zeitraum Beitragsmonate zu erwerben. Wenn nun § 255 Abs 2 ASVG ausdrücklich von Beitragsmonaten spreche und Zeiten eines Pensionsbezugs unberücksichtigt lasse, so würden hier Versicherte, die zuvor eine Invaliditätspension erhalten haben, gegenüber jenen, die keine Invaliditätspension erhalten haben, grob benachteiligt. Eine solche Benachteiligung sei sachlich in keiner Weise gerechtfertigt. Wenn man dem Gesetzgeber unterstelle, keine sachlichen Ungleichbehandlungen vornehmen zu wollen, liege eine planwidrige Lücke vor, die im Wege der ergänzenden Gesetzesauslegung dahingehend zu interpretieren und zu schließen sei, dass Zeiten des Bezugs einer Invaliditätspension in diese Zeiten einzurechnen seien. Wenn Zeiten des Pensionsbezugs den Rahmenzeitraum des § 255 Abs 2 ASVG erstrecken würden, so würde sich im gegenständlichen Fall der Rahmenzeitraum um 72 Monate in die Vergangenheit erstrecken. Daher würden unter diesen Voraussetzungen beim Kläger ab dem 1. 12. 1990 110 Beitragsmonate im angelernten Beruf als Maurer vorliegen. Aus diesem Grund würde bei teleologischer Interpretation dieser Gesetzesstelle und Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension gegeben sein.

 

OGH: Es ist zunächst festzuhalten, dass die Regelung des § 255 Abs 2 ASVG in den Gesetzesmaterialien mit der notwendigen Verschärfung der Voraussetzungen für die Erlangung des Berufsschutzes begründet wird, während die Regelung des § 255 Abs 4 Z 1 ASVG den Erhalt eines einmal erlangten Tätigkeitsschutzes sicherstellen soll. Nach der Regelung des § 255 Abs 4 Z 1 ASVG soll der Tätigkeitsschutz und die dafür geforderte 10-jährige Tätigkeit in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nicht durch eine zwischenzeitige (befristete) Gewährung der Invaliditätspension oder Berufsunfähigkeitspension gefährdet bzw durch die Inanspruchnahme der Pensionsleistung unmöglich gemacht werden. Zeiten des Bezugs einer Pension und von Übergangsgeld verlängern daher (zeitlich unbeschränkt) den Beobachtungszeitraum.

 

Eine ähnliche Problemlage besteht aber auch bei dem in § 255 Abs 2 ASVG für den Berufsschutz vorgesehenen Beobachtungszeitraum. Auch hier kann es - wie der Fall des Klägers zeigt - ohne entsprechende Erstreckung der Rahmenfrist bei längerem Pensionsbezug zu einem Wegfall des bei der erstmaligen Pensionsgewährung noch bestehenden Berufsschutzes kommen. Es kann aber nicht die Intention des Gesetzgebers sein, dass es durch einen befristeten Pensionsbezug zum Wegfall eines bestehenden Berufsschutzes kommt. Der Versicherte war in der Zeit des Bezugs der Invaliditätspension arbeitsunfähig und invalid und konnte daher in dieser Zeit keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen.

 

Zutreffend verweist der Kläger in diesem Zusammenhang auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der Aufnahme eines ausdrücklichen Verbots der Diskriminierung von Behinderten betont, dass staatliche Regelungen, die zu einer Benachteiligung behinderter Menschen führen, einer besonderen sachlichen Rechtfertigung bedürfen. Behinderung wird in § 3 BEinStG dahin definiert, dass es sich dabei um die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktion handelt, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich 6 Monaten.

 

Auch wenn die Regelung des § 255 Abs 2 ASVG idF BBG 2011 Menschen mit Behinderung und nicht behinderte Menschen gleich behandelt, werden behinderte Menschen durch eine Nichterstreckung der Rahmenfrist um Zeiten des Bezugs einer Invaliditätspension insofern benachteiligt und damit diskriminiert, als sie aufgrund ihrer Invalidität während dieser Zeit keine Möglichkeit haben, Pflichtversicherungsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit zu erwerben und sie daher - wie der Kläger - bei entsprechend langem Pensionsbezug Gefahr laufen, ihren Berufsschutz zu verlieren. Eine allein am Wortlaut orientierte Auslegung des § 255 Abs 2 ASVG ließe diese Bestimmung daher als unsachlich und somit iSd Art 7 Abs 1 B-VG als gleichheitswidrig erscheinen. Es wäre auch kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, bei sonst vergleichbarer Sach- und Interessenlage eine Erstreckung der Rahmenfrist um Zeiten des Bezugs einer Invaliditätspension nur für den Erhalt des Tätigkeitsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG und nicht auch für jenen des Berufsschutzes nach § 255 Abs 2 ASVG vorzusehen.

 

Eine solche unterschiedliche Rechtslage würde nach Ansicht des erkennenden Senats auch nicht der erkennbaren Absicht des Gesetzgebers entsprechen, der durch die Änderung des § 234 Abs 1 Z 5 ASVG durch das SRÄG 2012 klarstellen wollte, dass die Zeiten des Rehabilitationsgeldbezugs nicht auf die Beobachtungszeiträume für die Erlangung bzw Erhaltung des Berufs- oder Tätigkeitsschutzes angerechnet werden. Da sich aus dieser Berücksichtigung des Rehabilitationsgeldbezugs, welches gleichsam anstelle einer befristeten Pension geleistet wird, der Wille des Gesetzgebers ableiten lässt, solche Zeiten auch bei der Frage des Berufsschutzes nach § 255 Abs 2 ASVG berücksichtigen zu wollen, kann dem Gesetzgeber nicht mehr unterstellt werden, dass er die angesprochene unterschiedliche Rechtslage in der Frage der Erstreckung der Rahmenfrist beim Tätigkeitsschutz und beim Berufsschutz aufrecht erhalten wollte. Es ist daher, gemessen am Konzept des Gesetzgebers und zur Vermeidung einer dem Gleichheitssatz widersprechenden Rechtslage, das Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke anzunehmen, die im Hinblick auf das Gebot der verfassungskonformen Interpretation im Wege der analogen Anwendung des § 255 Abs 4 Z 1 ASVG auch für die Frage des Erhalts des Berufsschutzes nach § 255 Abs 2 ASVG zu schließen ist.

 

Bei der gebotenen analogen Anwendung des § 255 Abs 4 Z 1 ASVG erweitert sich die Rahmenfrist des § 255 Abs 2 ASVG somit um die Zeiten des Pensionsbezugs des Klägers vom 1. 12. 2003 bis 30. 11. 2009 (= 6 Jahre), sodass der maßgebende Beobachtungszeitraum für die Beurteilung des Berufsschutzes des Klägers iSd § 255 Abs 2 ASVG vom 1. 12. 1990 bis 1. 12. 2011 reicht. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren die für die Beurteilung der Frage, ob der Kläger im angegebenen Zeitraum zumindest 90 Pflichtversicherungsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit als angelernter Maurer erworben hat, erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.