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11.08.2014 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Beweislast in Fällen, in denen das Dienstverhältnis vom Arbeitgeber mit der Begründung beendet wird, der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin habe einen anderen Mitarbeiter zu Unrecht der sexuellen Belästigung beschuldigt

Die Beweislast dafür, dass die Klägerin gegen ihren Vorgesetzten wissentlich einen unwahren Vorwurf erhoben und damit den angezogenen Kündigungsgrund verwirklicht hat, trifft die beklagte Arbeitgeberin


Schlagworte: Kündigung, Entlassung, Vorwurf der sexuellen Belästigung, Beweislast
Gesetze:

§ 27 AngG, § 82 GewO, § 42 VBO Wien 1995, § 266 ZPO

GZ 8 ObA 55/13s [1], 26.05.2014

 

OGH: Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die wissentliche wahrheitswidrige Behauptung, von einem Vorgesetzten sexuell belästigt worden zu sein, den Kündigungsgrund des § 42 Abs 2 Z 1 VBO Wien 1995 verwirklicht, steht mit der Rsp im Einklang und wird von den Parteien im Revisionsverfahren nicht in Frage gestellt. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob der Kündigungsgrund auch dann verwirklicht ist, wenn die Richtigkeit der Behauptung, sexuell belästigt worden zu sein, nicht geklärt werden kann.

 

Die Revisionswerberin bestreitet in ihrem Rechtsmittel, dass es sich bei der Feststellung des Erstgerichts zum behaupteten Vorfall vom 15. 8. 2007 um eine Negativfeststellung handle. In Wahrheit sei nämlich das Erstgericht - wie Ausführungen in seiner Beweiswürdigung zeigten - davon ausgegangen, dass sich der von der Klägerin behauptete Vorfall nicht ereignet habe.

 

Dem ist allerdings nicht zu folgen: Das Erstgericht hat seine Feststellung zum von der Klägerin behaupteten Vorfall vom 15. 8. 2007 eindeutig und unmissverständlich als „negative Feststellung“ formuliert. Dass es im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Aussage der Klägerin kritisch würdigte und ausführlich begründet, warum es den behaupteten Vorfall nicht als erwiesen annimmt, trifft zu, bedeutet aber keineswegs, dass das Erstgericht die Unwahrheit der Anschuldigung als erwiesen annahm. Dagegen spricht vor allem der eindeutige Wortlaut seiner (negativen) Feststellung und überdies auch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts, in der die Behauptung der Klägerin als unbewiesen, nicht aber als widerlegt gewertet wird.

 

Es ist daher davon auszugehen, dass nach den Feststellungen die Frage, ob die Behauptungen der Klägerin über den Vorfall vom 15. 8. 2007 zutreffen oder ob es sich dabei um eine Falschbehauptung handelt, nicht geklärt ist.

 

Damit stellt sich die Frage nach der Beweislast der Parteien.

 

Grundsätzlich trifft den Arbeitgeber die Beweislast für die geltend gemachten Entlassungs- bzw Kündigungsgründe. Nach diesem Grundsatz hätte die Beklagte als Arbeitgeberin auch zu beweisen, dass die Klägerin wissentlich unwahre Anschuldigungen erhoben hat.

 

Die Revisionswerberin macht aber an sich zutreffend geltend, dass zu den Entlassungsgründen der erheblichen Ehrverletzung (§ 27 Z 6 AngG) bzw der groben Ehrenbeleidigung (§ 82 Abs 1 lit g GewO) wiederholt dem Arbeitgeber lediglich die Beweislast für die ehrverletzende Behauptung zugewiesen wurde; sofern diese ihrer Natur nach einem Wahrheitsbeweis zugänglich sei, treffe hingegen den Arbeitnehmer die Beweislast für die Wahrheit der erhobenen Beschuldigung bzw dafür, dass er hinreichende Gründe hatte, sie für wahr zu halten. In einem Fall, in dem die gekündigte Dienstnehmerin - wie hier - selbst das angebliche Opfer einer behaupteten sexuellen Belästigung war, scheide der Beweis des guten Glaubens im Allgemeinen aus.

 

Daraus leitet die Revisionswerberin die Beweislast der Klägerin für die Richtigkeit ihrer Anschuldigungen ab. Dieser Beweis sei ihr aber nicht gelungen.

 

Der OGH ist allerdings der Ansicht, dass diese Rsp für den hier zu beurteilenden Fall der Behauptung, Opfer einer sexuellen Belästigung geworden zu sein, nicht zum Tragen kommen kann.

 

Die Rechtsentwicklung der letzten Jahre auf europäischer und auf nationaler Ebene ist von der klaren Tendenz getragen, sexuelle Belästigung im Arbeitsverhältnis zu bekämpfen und den Opfern derartiger Belästigung die Durchsetzung ihrer Rechte so weit wie möglich zu erleichtern.

 

Mit Art 4 der Richtlinie 97/80/EG des Rates vom 15. 12. 1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Beweislast-RL) verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, nach denen dann, wenn Personen, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Diese Beweislastverteilungsregel findet sich nunmehr in Art 19 der RL 2006/54/EG.

 

Darüber hinaus wurde in Art 7 der RL 2002/73/EG (nunmehr Art 24 der RL 2006/54/EG) ein allgemeines Verbot an den Arbeitgeber normiert, einen Arbeitnehmer in Reaktion auf eine Beschwerde oder auf die Einleitung eines Verfahrens zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu benachteiligen (Verbot der Viktimisierung; vgl auch den 17. Erwägungsgrund der RL 2002/73/EG; 9 ObA 113/11z).

 

Auch auf der Ebene der Beklagten wurden diese Vorgaben zum Schutz der Bediensteten vor sexueller Belästigung iZm dem Dienstverhältnis und der dadurch bewirkten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (§ 7 W-GlBG) durch Bestimmungen des W-GlBG und der VBO 1995 (vgl insbesondere die Antidiskriminierungsnovelle WrLGBl 2004/36) umgesetzt. So hat etwa gem § 18 Abs 4 W-GlBG die von einer sexuellen Belästigung betroffene Person zur Durchsetzung ihrer aus dem Wiener Gleichbehandlungsgesetz resultierenden Rechte den Umstand einer sexuellen Belästigung lediglich glaubhaft zu machen. Betroffene Personen dürfen keine Nachteile dadurch erleiden, dass sie eine sexuelle Belästigung geduldet, zurückgewiesen oder zur Anzeige gebracht haben (§ 4c Abs 3 Z 2 und 3 VBO 1995).

 

Mit diesen klaren, aus der europäischen und der nationalen Gesetzgebung abgeleiteten Vorgaben ist es unvereinbar, in Fällen wie dem hier zu beurteilenden das gerade im Falle der Behauptung sexueller Belästigung im besonderen Maß bestehende Risiko der mangelnden Beweisbarkeit einer Anschuldigung iZm der Verwirklichung eines Entlassungs- oder Kündigungsgrundes uneingeschränkt der die Anschuldigung erhebenden Person zuzuweisen. Dies würde das Risiko, derartige Behauptungen vorzubringen und Abhilfe zu suchen, enorm erhöhen, was der dargestellten gesetzgeberischen Tendenz klar zuwiderlaufen und dem Grundsatz widersprechen würde, dass nationale Regelungen die Durchsetzung der durch Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Grundsatz der Effektivität; vgl Art 47 GRC; Art 19 Abs 1 EUV; 4 Ob 154/09i; 8 ObA 20/13v ua).

 

Der aus der in der Revision zitierten Entscheidung 9 ObA 186/89 von diesem Ergebnis abweichende Standpunkt kann angesichts der seither eingetretenen Rechtsentwicklung auf europäischer und auf nationaler Ebene nicht aufrecht erhalten werden.

 

Es ist daher davon auszugehen, dass die Beweislast dafür, dass die Klägerin gegen ihren Vorgesetzten wissentlich einen unwahren Vorwurf erhoben und damit den angezogenen Kündigungsgrund verwirklicht hat, die Beklagte trifft. Dieser Beweis ist ihr allerdings nach den bisher vorliegenden Feststellungen nicht gelungen.