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15.06.2015 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, ob das Fahren mit Schrittgeschwindigkeit während eines Zeitraums von 13 bis 18 Sekunden in einem unübersichtlichen Kurvenbereich auf einer Freilandstraße bei erlaubter Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h als grundloses und verkehrsbehinderndes Langsamfahren iSd § 20 Abs 1 letzter Satz StVO zu qualifizieren ist

Angesichts der hier - in einem unübersichtlichen Straßenbereich auf einer Freilandstraße mit einer Sichtweite von lediglich 42 m - für einen Zeitraum von zumindest 13 Sekunden eingehaltenen Schrittgeschwindigkeit, wenn auch die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nur 50 km/h betrug, kann nicht davon ausgegangen werden, dass den Lenker des Beklagtenfahrzeugs jedenfalls kein Verschulden iSd § 20 Abs 1 letzter Satz StVO trifft; dass im Zeitpunkt seines Losfahrens noch kein anderer Verkehrsteilnehmer im Sichtbereich war, gereicht ihm angesichts der Unübersichtlichkeit der Kurve und der besonders langen, auch nicht durch verkehrsbedingte Umstände ausgelösten Dauer seines Langsamfahrmanövers nicht zur Entlastung


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Langsamfahren
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 20 StVO

 

GZ 2 Ob 30/15y [1], 09.04.2015

 

OGH: Gem § 20 Abs 1 letzter Satz StVO darf ein Fahrzeuglenker nicht ohne zwingenden Grund so langsam fahren, dass er den übrigen Verkehr behindert.

 

Entscheidungen des OGH, in denen der Verschuldensvorwurf auf die Einhaltung einer zu geringen Geschwindigkeit gestützt wurde, sind selten.

 

So wurde zuletzt in 2 Ob 17/12g ausgesprochen, dass auf einer Autobahn mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h das Fahren mit 20 km/h - noch dazu bei Dunkelheit und ohne Warnblinkanlage - ein maßgebliches Fehlverhalten darstelle.

 

In einer älteren Entscheidung, 2 Ob 96/77, wurde ausgesprochen, dass eine ohne zwingenden Grund vorgenommene allmähliche Herabsetzung der Geschwindigkeit auf Schrittgeschwindigkeit, wodurch der Lenker eines einzeln nachfolgenden Fahrzeugs gezwungen wird, ebenfalls vorübergehend seine Geschwindigkeit zu vermindern, noch keinen Verstoß gegen § 20 Abs 1 letzter Satz StVO bedeutet; es wurde aber hinzugefügt, dass ein solcher bei „nennenswerter längerer Behinderung“ anzunehmen sei.

 

Auch in 8 Ob 153/80 wurde auf Autobahnen eine Behinderung des Nachfolgeverkehrs durch Langsamfahren ohne zwingenden Grund als möglich erachtet. Insbesondere bei Nacht sei die Abschätzung der Geschwindigkeit eines vorausfahrenden Fahrzeugs auf der Autobahn äußerst schwierig. Unter diesen Umständen habe der Kläger sehr wohl damit rechnen müssen, durch sein grundloses Langsamfahren den Nachfolgeverkehr zu gefährden. Aus dem Zweck dieser Bestimmung sei abzuleiten, dass sie nicht nur der Sicherung der Flüssigkeit des Verkehrs im Allgemeinen, sondern auch und im Besonderen der Vermeidung von Verkehrsunfällen diene, die durch grundloses verkehrsbehinderndes Langsamfahren ausgelöst und begünstigt würden. Die Übertretung dieser Schutzvorschrift aber setze voraus, dass es sich um Langsamfahren ohne zwingenden Grund handle und die Fahrweise verkehrsbehindernd sei.

 

Eine Mindestgeschwindigkeit als allgemeine Fahrregel ist nicht vorgeschrieben. Nach den in 8 Ob 153/80 wiedergegebenen Gesetzesmaterialien hat der Gesetzgeber zwar von einer ziffernmäßigen Bestimmung einer Mindestgeschwindigkeit bewusst Abstand genommen; mit dieser Vorschrift sollte aber dafür Sorge getragen werden, dass niemand grundlos so langsam fahren dürfe, dass er den übrigen Verkehr behindere.

 

Angesichts der hier - in einem unübersichtlichen Straßenbereich auf einer Freilandstraße mit einer Sichtweite von lediglich 42 m - für einen Zeitraum von zumindest 13 Sekunden eingehaltenen Schrittgeschwindigkeit, wenn auch die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nur 50 km/h betrug, kann auch nach Ansicht des erkennenden Senats nicht davon ausgegangen werden, dass den Lenker des Beklagtenfahrzeugs jedenfalls kein Verschulden iSd § 20 Abs 1 letzter Satz StVO trifft.

 

Dass im Zeitpunkt seines Losfahrens noch kein anderer Verkehrsteilnehmer im Sichtbereich war, gereicht ihm angesichts der Unübersichtlichkeit der Kurve und der besonders langen, auch nicht durch verkehrsbedingte Umstände ausgelösten Dauer seines Langsamfahrmanövers nicht zur Entlastung, macht doch in Ansehung unübersichtlicher Kurven das Gesetz den Verkehrsteilnehmern im Interesse der Sicherheit des Verkehrs in zahlreichen Bestimmungen (vgl § 7 Abs 2, § 16 Abs 2 lit b, §§ 20 Abs 1, 23 Abs 1 sowie 24 Abs 1 lit b, § 99 Abs 2 lit d StVO) in mehrfacher Hinsicht besondere Vorsicht zur Pflicht. Ansonsten wäre gerade in unübersichtlichen Straßenbereichen, in denen ein dem § 20 Abs 1 letzter Satz StVO widersprechendes Verhalten besonders gefährlich ist, grundloses Langsamfahren deshalb folgenlos, weil angesichts der dort regelmäßig geringen Sichtweite andere Verkehrsteilnehmer besonders spät in den Sichtbereich gelangen.

 

Die vom Erstgericht zitierte Entscheidung ZVR 1977/98, wonach das in § 20 Abs 1 letzter Satz StVO normierte Verbot das Vorhandensein sonstigen Verkehrs voraussetzt, den ein Fahrzeuglenker wahrnimmt bzw bei pflichtgemäßer Sorgfalt wahrnehmen könnte, lag der Fall eines zufolge Nachrangs bloß mit 4 km/h in eine Kreuzung einfahrenden Linkseinbiegers zugrunde, also ein völlig anders gelagertes Fahrmanöver in einer grundsätzlich alltäglichen Verkehrssituation, das nur besonders „zögernd und langsam“ durchgeführt wurde, aber nicht, wie hier, ein gänzlich unnötiges (die Brille hätte bereits vor Fahrtantritt auf dem Parkplatz gesucht und aufgesetzt werden können) und für andere Verkehrsteilnehmer völlig unvorhersehbares Verhalten. Angesichts der Länge des Zeitraums, währenddessen der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hier seine Schrittgeschwindigkeit beibehielt, kann es auf die Verkehrsverhältnisse am Beginn dieses (angesichts der Unfallstelle auch keineswegs ungefährlichen) Fahrmanövers nicht ankommen.