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03.08.2015 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, ob ein Kraftfahrer bereits dann mit hinter einer Hecke hervorlaufenden Kindern rechnen und seine Fahrgeschwindigkeit auf 20 km/h reduzieren muss, wenn zwar ein Verkehrszeichen „Allgemeine Gefahr“ und ein grünes Hinweisschild „Achtung spielende Kinder“ existieren, sich aber tatsächlich keine Kinder in der Umgebung aufhalten und auch der vorhandene Sportplatz in sicherer Entfernung liegt

Ungeachtet der iSd § 9 Abs 2 EKHG einzuhaltenden äußerst möglichen Sorgfalt muss ein Kraftfahrer mit völlig unerwartet die Fahrbahn betretenden Kindern nicht rechnen; in der E 2 Ob 363/99t wurde für die Annäherung an (erkennbare) Schülergruppen die Herabsetzung der Fahrgeschwindigkeit „auf zumindest 30 km/h“ als geboten erachtet


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, spielende Kinder, unerwartet, unabwendbares Ereignis, Geschwindigkeit
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 9 EKHG, § 20 StVO, § 50 StVO

 

GZ 2 Ob 99/15w [1], 08.06.2015

 

OGH: Nach den Feststellungen der Vorinstanzen betrug die erlaubte Höchstgeschwindigkeit im Unfallbereich 30 km/h. Der Beklagte näherte sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 25 km/h, als der damals achtjährige Kläger aus der Einfahrt des von einer Buchenhecke gesäumten Hauses seiner Großmutter auf die Fahrbahn der Gemeindestraße lief. Da den Kläger für das Verschulden des Beklagten die Behauptungs- und Beweislast trifft, geht die zur Annäherungsgeschwindigkeit des Beklagten verbliebene Ungewissheit (insoweit) zu seinen Lasten. Es ist daher für die Frage der Verschuldenshaftung von der für den Beklagten günstigsten Variante, somit einer Annäherungsgeschwindigkeit von 20 km/h auszugehen.

 

Auf dieser Grundlage ist aber die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe unter den konkreten Umständen des Einzelfalls keinen schuldhaften Verstoß gegen die Schutznorm des § 20 Abs 1 StVO zu verantworten, zumindest vertretbar. Der Kläger, der - den erstinstanzlichen Feststellungen zu verschiedenen Vermeidbarkeitsszenarien folgend - selbst eine zulässige Annäherungsgeschwindigkeit von „16 km/h bzw 20 km/h“ zugesteht, zeigt in diesem Zusammenhang keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

 

Gefährdungshaftung:

 

Was die Gefährdungshaftung nach dem EKHG anlangt, so kann sich ein Fahrzeughalter von seiner Haftung nur dann befreien, wenn er unter Beweis stellt, dass ein unabwendbares Ereignis vorliegt, wobei Zweifel stets zu Lasten des Halters gehen. Bei mehreren möglichen Versionen des Unfallgeschehens ist im Zweifel wegen der den Halter treffenden Beweislast von der für den Geschädigten günstigsten bzw für den Halter ungünstigsten Voraussetzung auszugehen.

 

Im vorliegenden Fall führt dies - anders als bei der Verschuldenshaftung - zur Annahme einer Annäherungsgeschwindigkeit von 25 km/h: Diese Geschwindigkeit hat auch das Berufungsgericht seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt.

 

Ein unabwendbares Ereignis setzt voraus, dass der Halter die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche und zumutbare Sorgfalt eingehalten hat; es muss alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte. An diese Sorgfaltspflicht sind strengste Anforderungen zu stellen; sie darf andererseits aber auch nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden. Dabei ist nicht rückblickend zu beurteilen, ob der Unfall bei anderem Verhalten vermieden worden wäre, sondern von der Sachlage vor dem Unfall auszugehen. Entscheidend ist demnach, welche Maßnahmen vorausschauend geboten waren. Der Umfang der gem § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängt regelmäßig von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab.

 

Das Berufungsgericht ist in Anwendung dieser Grundsätze zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Beklagten unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse zum Unfallszeitpunkt, seiner aufmerksamen Fahrweise und unverzüglichen Reaktion auf die Wahrnehmbarkeit des auf die Fahrbahn laufenden Klägers auch bei Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit von 25 km/h der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG gelungen sei.

 

Angesichts der verordneten Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h, die den konkreten Verhältnissen im Unfallbereich bereits Rechnung trug, begründet es keine erhebliche Rechtsfrage, ob nach dem anzuwendenden strengen Sorgfaltsmaßstab einem besonders umsichtigen und „idealen“ Kraftfahrer bei der gebotenen Ex-ante-Sicht die Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h zugebilligt werden konnte, oder ob - wie der Kläger meint - eine weitere Herabsetzung auf 20 km/h (die Geschwindigkeit, bei welcher der Unfall ex post betrachtet vermieden hätte werden können) geboten gewesen wäre. Eine allgemein gültige Aussage des OGH zu dieser Frage kommt schon wegen des Einzelfallcharakters der dafür maßgeblichen Umstände nicht in Betracht. Dass diese vom Berufungsgericht in grober Weise verkannt worden wären, ist aber nicht ersichtlich.

 

Richtig ist zwar, dass Kindern gegenüber jede nur denkbare Vorsicht geboten und insbesondere die Geschwindigkeit zu verringern ist; muss doch bei der Annäherung an spielende Kinder damit gerechnet werden, dass sie unbedacht in die Fahrbahn laufen. Diese Rsp bezieht sich auf Sachverhalte, bei denen die Kinder für die Kraftfahrer erkennbar waren. Passend dazu vertritt der OGH auch die Rechtsansicht, dass ein Kraftfahrer ungeachtet der iSd § 9 Abs 2 EKHG einzuhaltenden äußerst möglichen Sorgfalt mit völlig unerwartet die Fahrbahn betretenden Kindern nicht rechnen muss.

 

In der im Rechtsmittel des Klägers zitierten Entscheidung 2 Ob 19/04i wurde im Einklang mit dieser Judikatur die Haftung eines Pkw-Lenkers, der sich einer Kreuzung mit 30 km/h genähert hatte, nach einer Kollision mit einem für ihn vorher nicht erkennbaren auf die Fahrbahn gelaufenen Kind verneint. Damals wurde festgestellt, dass der Lenker von der nahe gelegenen Schule keine Kenntnis hatte und auch an der Kreuzung ein auf Kinder hinweisendes Gefahrenzeichen nicht vorhanden war.

 

Der Kläger versucht aus dieser Begründung abzuleiten, dass die Auffassung des Berufungsgerichts zu der zitierten Entscheidung in Widerspruch steht. Ein solcher kann aber schon deshalb nicht vorliegen, weil die Entscheidung 2 Ob 19/04i keine Ausführungen zum gebotenen Verhalten des Pkw-Lenkers für den hypothetischen Fall seiner Kenntnis von einer nahe gelegenen Schule oder des Vorhandenseins eines auf Kinder hinweisenden Gefahrenzeichens enthält.

 

Der Kläger verweist mehrfach auf jene Feststellungen, nach denen (aus Sicht des Beklagten) etwa 300 m vor Erreichen der Unfallstelle am rechten Fahrbahnrand eine grüne Tafel mit der Aufschrift „Achtung spielende Kinder“ sowie ein Gefahrenzeichen „Allgemeine Gefahr“ (gemeint offenbar: „Andere Gefahren“; vgl § 50 Z 16 StVO) aufgestellt waren. Diesen Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass (auch) ein Gefahrenzeichen nach § 50 Z 12 StVO („Kinder“) aufgestellt war.

 

Das Berufungsgericht hat in dem Gefahrenzeichen nach § 50 Z 16 StVO, das nach der gesetzlichen Definition andere als die in § 50 Z 1 bis 15 StVO angeführten Gefahrenstellen ankündigt, keinen Grund gesehen, der den Beklagten zu einer weiteren Reduktion seiner Fahrgeschwindigkeit veranlassen hätte müssen. Diese Rechtsansicht wirft im gegebenen Zusammenhang schon deshalb keine erhebliche Rechtsfrage auf, weil sich keine „andere“ Gefahr verwirklicht hat. Ebenso wurde in vertretbarer Weise die Relevanz der Tatsache, dass ca 40 m vor der Unfallstelle Gemeindearbeiter an der Straßenböschung tätig waren, verneint.

 

Näheres zur Anbringung der grünen Tafel mit der Aufschrift „Achtung spielende Kinder“ wurde weder behauptet noch festgestellt. Wenngleich in dieser Tafel kein Gefahrenzeichen nach § 50 Z 12 StVO (und auch kein Hinweiszeichen nach § 53 StVO oder eine Zusatztafel iSd § 54 StVO) zu erblicken ist, konnte sie ungeachtet ihrer fehlenden normativen Wirkung zur Beeinflussung jener „konkreten Umstände“ geeignet sein, an denen die Sorgfalt des Fahrzeuglenkers zu messen ist.

 

Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dieser und der vom Berufungsgericht daran geknüpften Frage, ob der Beklagte aufgrund dieses „Hinweisschilds“ auch mit dem Betreten der Fahrbahn durch für ihn noch nicht erkennbare Kinder rechnen musste, ist jedoch entbehrlich, weil selbst im Falle ihrer Bejahung die Rechtsansicht des Berufungsgerichts über das Gelingen des Entlastungsbeweises jedenfalls nicht unvertretbar ist. In der Entscheidung 2 Ob 363/99t wurde etwa für die Annäherung an (erkennbare) Schülergruppen die Herabsetzung der Fahrgeschwindigkeit „auf zumindest 30 km/h“ als geboten erachtet.