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09.05.2016 Zivilrecht

OGH: Dauerhafter Verbleib einer Scherenspitze im Körper als Körperverletzung iSd § 1325 ABGB?

Seelisches Schmerzengeld steht auch dann zu, wenn eine abgebrochene Scherenspitze nach einer Operation im Körper bleibt und keine körperlichen Schmerzen verursacht


Schlagworte: Schadenersatzrecht, seelisches Schmerzengeld, Verbleib einer Scherenspitze im Körper
Gesetze:

 

§ 1325 ABGB

 

GZ 4 Ob 48/16m [1], 30.03.2016

 

OGH: Das Schmerzengeld hat die Aufgabe, eine Globalentschädigung für alle durch die eingetretenen und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu gewähren. Die mit der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit einhergehenden Unlustgefühle sind dabei mitzuberücksichtigen.

 

Seelische Schmerzen sind ersatzfähig, wenn sie Folge einer Körperverletzung sind. Sie sind dann auch ohne gesonderte Behauptung zu berücksichtigen, wenn nach Lage des Falls mit seelischen Schmerzen zu rechnen ist, etwa bei einer nachvollziehbaren länger dauernden Ungewissheit oder Sorge wegen späterer Komplikationen. Dabei kommt es für die Ausgleichsfähigkeit weder auf das Vorliegen eines eigenständigen Leidenszustands von Krankheitswert noch einer ärztlichen Behandlungsbedürftigkeit an.

 

Sind seelische Schmerzen hingegen keine Folge einer Körperverletzung, gebührt Ersatz nur in Ausnahmefällen, etwa bei schwerwiegenden Eingriffen in die psychische Sphäre. Allein eine Verärgerung, eine Aufregung, ein Schrecken oder Angstgefühle genügen nicht. Eine psychische Beeinträchtigung, die bloß in Unbehagen und Unlustgefühlen besteht, reicht somit für sich nicht aus, um als Verletzung am Körper angesehen oder einer Verletzung gleichgestellt zu werden.

 

Das Berufungsgericht hat im Anlassfall nicht ausreichend berücksichtigt, dass unter einer „Verletzung an dem Körper“ iSd § 1325 ABGB jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit und Unversehrtheit zu verstehen ist. Der OGH hat etwa auch das Abschneiden der Haare ohne Einwilligung als Körperverletzung iSd § 1325 ABGB qualifiziert, wenngleich dies nicht mit Schmerzen verbunden ist oder Einwirkung auf den allgemeinen Gesundheitszustand hat und die Wiederherstellung des früheren Zustands durch das Nachwachsen der Haare zu erwarten ist. Umso mehr muss auch der dauerhafte Verbleib einer abgebrochenen Schere nach einer Operation als Körperverletzung iSd § 1325 ABGB betrachtet werden, zumal damit auch Spät- bzw Dauerfolgen verbunden sein können. Auch ärztliche Eingriffe sind nämlich Körperverletzungen, wenn sie negative Folgen zeitigen. Eine äußerlich sichtbare Körperverletzung muss nicht vorliegen.

 

Bei den Sorgen des Klägers und seiner Ungewissheit wegen der Existenz eines Fremdkörpers handelt es sich daher nicht um psychische Beeinträchtigungen, die bloß in Unbehagen und Unlustgefühlen bestehen, sondern vielmehr um die nachvollziehbaren seelischen Folgen einer Körperverletzung iSd § 1325 ABGB. Entgegen der Ansicht des Zweitgerichts ist diese Ungewissheit unter dem Aspekt seelischer Schmerzen als Akzessorium einer Körperverletzung zu berücksichtigen. Der erkennende Senat erachtet hier zur Abgeltung des Unbills, das der Kläger zu erdulden hatte und in Zukunft noch zu erdulden haben wird, ein Schmerzengeld von insgesamt 5.000 EUR für angemessen.