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04.07.2016 Zivilrecht

OGH: Rechtsschutzversicherung – Berechtigung des Versicherers zur Kündigung im Schadenfall nach Art 13.1. MKRB 2010?

Art 13.1. MKRB 2010 konkretisiert nicht die Voraussetzungen, unter denen der Versicherer sein Kündigungsrecht aus sachlich nachvollziehbaren Kriterien ausüben kann; wird dem Versicherer eine völlig undeterminierte Kündigungsmöglichkeit beim ersten – noch so kleinen – Rechtsschutzversicherungsfall eingeräumt, ist diese Kündigungsregelung mangels objektivierbarer Kriterien gröblich benachteiligend und hält schon aus diesem Grund der Inhaltskontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB nicht stand


Schlagworte: Versicherungsrecht, Rechtsschutzversicherung, Kündigung durch Versicherer, Inhaltskontrolle, Geltungskontrolle
Gesetze:

 

Art 13 MKRB 2010, § 879 ABGB, § 864a ABGB

 

GZ 7 Ob 84/16b [1], 25.05.2016

 

Die Klägerin schloss mit der Beklagten am 21. 9. 2010 einen Rechtsschutzversicherungsvertrag ab, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Ö*****-Mobilitäts- und Konsumenten-Rechtsschutzversicherung 2010 (MKRB 2010) zugrunde liegen.

 

Nach Meldung eines Schadenfalls durch die Klägerin gab die Beklagte dafür mit Schreiben vom 23. 1. 2014 einerseits eine Deckungserklärung ab und kündigte andererseits das Versicherungsverhältnis mit Wirkung zum 1. 3. 2014. Die Beklagte berief sich dabei auf Art 13 MKRB 2010, der auszugsweise wie folgt lautet:

 

„Kündigung im Schadenfall

 

1. Nach Bestätigung des Versicherungsschutzes oder Erbringung der Leistung haben der Versicherungsnehmer und der Versicherer das Recht, die Versicherung mit einmonatiger Frist zu kündigen; der Versicherer spätestens anlässlich der Erledigungsmitteilung, der Versicherungsnehmer spätestens einen Monat nach Erhalt dieser Mitteilung.

 

...“

 

Diese Klausel findet sich in den MKRB 2010 im einleitenden Hauptpunkt „Gemeinsame Bestimmungen“.

 

 

OGH: Die Geltungskontrolle nach § 864a ABGB geht der Inhaltskontrolle gem § 879 Abs 3 ABGB vor. Objektiv ungewöhnlich nach § 864a ABGB ist eine Klausel, die von den Erwartungen des Vertragspartners deutlich abweicht, mit der er also nach den Umständen vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht. Der Klausel muss ein „Überrumpelungseffekt“ innewohnen. Die Ungewöhnlichkeit ist objektiv zu verstehen. Die Subsumtion hat sich an der Verkehrsüblichkeit beim betreffenden Geschäftstyp zu orientieren. Ein Abstellen auf die subjektive Erkennbarkeit gerade für den anderen Teil ist daher ausgeschlossen.

 

Das Kündigungsrecht nach Art 13.1. MKRB 2010 ist nicht objektiv ungewöhnlich. Die Bestimmung ist nicht im Text „versteckt“. Ein durchschnittlich sorgfältiger Leser kann das (paritätisch ausgestaltete) Kündigungsrecht im einleitenden Hauptpunkt „Gemeinsame Bestimmungen“ und damit dort finden, wo es zu vermuten ist. Die Klausel findet sich unter der Überschrift „Kündigung im Schadenfall“ an systematisch richtiger Stelle. Ein „Überrumpelungseffekt“ ist daher zu verneinen.

 

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts und der Meinung der Klägerin wird die vereinbarte Kündigungsmöglichkeit nicht dadurch objektiv ungewöhnlich iSd § 864a ABGB, wenn darin nicht auch eine ausdrückliche Kündigungsmöglichkeit bei Ablehnung der Rechtsschutzdeckung vorgesehen ist. Allein das Fehlen einer weiteren Kündigungsmöglichkeit führt (in der Rechtsschutzversicherung) nicht dazu, dass das vereinbarte Kündigungsrecht von den berechtigten Erwartungen des Versicherungsnehmers deutlich abweicht. Die Klausel hält damit der Geltungskontrolle nach § 864a ABGB stand.

 

Gem § 879 Abs 3 ABGB ist eine in AGB oder Vertragsformblättern enthaltene Vertragsbestimmung, die nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungen festlegt, nichtig, wenn sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls einen Teil gröblich benachteiligt. Das dadurch geschaffene bewegliche System berücksichtigt einerseits die objektive Äquivalenzstörung und andererseits die „verdünnte Willensfreiheit“. § 879 Abs 3 ABGB will va den Missbrauch der Privatautonomie durch Aufdrängen benachteiligender vertraglicher Nebenbestimmungen seitens eines typischerweise überlegenen Vertragspartners, va bei Verwendung von AGB, bekämpfen. Eine gröbliche Benachteiligung ist jedenfalls stets dann anzunehmen, wenn die dem Vertragspartner zugedachte Rechtsposition in auffallendem Missverhältnis zur vergleichbaren Rechtsposition des anderen steht.

 

Bei der Rechtsschutzversicherung sorgt der Versicherer für die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers in den im Vertrag umschriebenen Bereichen und trägt die dem Versicherungsnehmer dabei entstehenden Kosten (§ 158j Abs 1 erster Satz VersVG). Die Rechtsschutzversicherung ist eine passive Schadensversicherung und keine Sachversicherung.

 

Eine analoge Anwendung der gesetzlich geregelten Kündigungsrechte im Schadenfall auf die Rechtsschutzversicherung kommt nicht in Betracht, sodass die Kündigungsrechte in der Rechtsschutzversicherung imparitätisch gestaltet werden können. Auch wenn das Kündigungsrecht in der Rechtsschutzversicherung nicht vollständig paritätisch sein muss, bedeutet dies aber nicht, dass sich der Versicherer ein unbeschränktes Kündigungsrecht einräumen und damit den Versicherungsnehmer, der nur eingeschränkte Kündigungsmöglichkeiten hat, gröblich benachteiligen darf.

 

In der Entscheidung 7 Ob 201/12b führte der erkennende Senat aus, dass im Fall eines Kündigungsrechts im Schadenfall in der Rechtsschutzversicherung, das zu Gunsten des Versicherers imparitätisch ausgestaltet ist, die Voraussetzungen dafür besonders genau präzisiert und objektivierbar sein müssen, um beurteilen zu können, ob es iSd § 879 Abs 3 ABGB auch sachlich gerechtfertigt ist. Der OGH beurteilte in diesem Sinn Art 15.3.2 ARB 2010, der dem Versicherer de facto ein uneingeschränktes Kündigungsrecht im Schadenfall zubilligt, nach § 879 Abs 3 ABGB für nichtig, weil diese Klausel keine objektivierbaren Kriterien festlege, die Kündigung in das freie Ermessen des Versicherers gestellt werde und diese Bedingung dem Versicherer die Möglichkeit einräume, Prämien während eines beliebig langen Zeitraums zu lukrieren und beim ersten Schadenfall den Versicherungsvertrag zu kündigen. Dies sei für den Versicherungsnehmer gröblich benachteiligend.

 

Nach Art 13.1. MKRB 2010 sind zwar Versicherungsnehmer und Versicherer zur Kündigung des Rechtsschutzversicherungsvertrags nach Bestätigung des Versicherungsschutzes oder Erbringung der Leistung berechtigt. Aber auch bei Parität (dh formaler Gleichheit) der Kündigungsrechte ist die Klausel einer Inhaltskontrolle zu unterziehen.

 

In den in der Klausel genannten Fällen wird der Versicherungsnehmer, sofern iZm der Bestätigung oder Leistungserbringung durch den Versicherer nicht besondere (negative) Umstände eintreten, sich kaum veranlasst sehen, den Versicherungsvertrag zu kündigen. Er erhält ja vom Versicherer die Hauptleistung, die in der Rechtsschutzversicherung in der Kostenübernahme besteht. Versicherungsnehmer haben bei Eintritt eines Versicherungsfalls, für den der Versicherer leistungspflichtig ist, kaum Grund und Anlass zu einer Kündigung.

 

Nach der Klausel steht der Beklagten jedoch bei einmaliger Bestätigung des Versicherungsschutzes oder Leistungserbringung ein uneingeschränktes Kündigungsrecht im Schadenfall zu, auch im Bagatellfall. Dadurch wird ihr die Möglichkeit eingeräumt, die Prämien während eines langen Zeitraums zu lukrieren und beim ersten Versicherungsfall (mag dieser zB auch nur in einer einmaligen Rechtsberatung liegen) den Versicherungsvertrag zu kündigen. Die jederzeit mögliche Kündigung durch den Versicherer wird dadurch zum Willkürakt, wird doch die Kündigung in sein freies Ermessen gestellt. Die Kündigungsrechte sind zwar formal gleich geregelt, jedoch besteht in diesen Fällen eine ganz erheblich unterschiedliche Interessenlage, die den Versicherer ohne sachliche Rechtfertigung deutlich grob bevorzugt. Er kann nach der Klausel uneingeschränkt kündigen, während diese Möglichkeit für den Versicherungsnehmer keinen besonderen Wert hat. Inhaltlich besteht insofern ein grobes Ungleichgewicht. Art 13.1. MKRB 2010 konkretisiert nicht die Voraussetzungen, unter denen der Versicherer sein Kündigungsrecht aus sachlich nachvollziehbaren Kriterien ausüben kann. Wird dem Versicherer eine völlig undeterminierte Kündigungsmöglichkeit beim ersten – noch so kleinen – Rechtsschutzversicherungsfall eingeräumt, ist diese Kündigungsregelung mangels objektivierbarer Kriterien gröblich benachteiligend und hält schon aus diesem Grund der Inhaltskontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB nicht stand.

 

Es braucht daher auf den - sich hier nach dem Sachverhalt nicht verwirklichten - Umstand nicht eingegangen werden, dass dem Versicherungsnehmer im Fall der Ablehnung der Deckung in den Versicherungsbedingungen keine ausdrückliche Kündigungsmöglichkeit eingeräumt wurde.

 

Art 13.1. MKRB 2010 ist aus den dargelegten Gründen rechtswidrig iSd § 879 Abs 3 ABGB, sodass die von der Beklagten auf diese Klausel gestützte Kündigung unwirksam und der Rechtsschutzversicherungsvertrag weiterhin aufrecht ist.