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03.10.2016 Zivilrecht

OGH: § 1320 ABGB – zur Frage, ob eine durch unmittelbare Annäherung an einen im Zuge eines Verkehrsunfalls schwer verletzten Hund verursachte Bissverletzung im Rechtswidrigkeitszusammenhang zur vorangegangenen Verletzung der Verwahrungspflicht steht

Dass Hunde plötzlich auf offenen Straßen auftauchen und dadurch Verkehrsunfälle verursachen können, ist eine von der Rsp anerkannte Gefahr, der § 1320 ABGB vorzubeugen sucht; der Schutzzweck von § 1320 ABGB erfasst aber auch die Vermeidung solcher Schäden, die anderen Personen als Teilnehmern des Fließverkehrs entstanden sind, sofern sie bei gehöriger Verwahrung unterblieben wären, selbst wenn kein geradezu atypisches, wohl aber ein objektiv vorhersehbares Verhalten des Tieres vorliegt


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Haftung des Tierhalters, Verkehrsunfall, verletzter Hund, nicht ordnungsgemäß verwahrter Hund
Gesetze:

 

§ 1320 ABGB

 

GZ 6 Ob 142/16z [1], 20.07.2016

 

OGH: Zutreffend gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, dass ein auf der Straße frei herumlaufender Hund ein erhebliches Gefahrenmoment darstellt und daher in unmittelbarer Nähe einer stark frequentierten Straße besonders sorgfältig zu verwahren ist. Den insoweit angelasteten Sorgfaltsverstoß haben die beklagten Parteien in ihrer Berufung auch nicht mehr bekämpft.

 

Kausalität und Adäquanz würden nur bei Hinzutreten von Umständen außerhalb der allgemeinen menschlichen Erwartung oder bei außergewöhnlicher Verkettung nicht vorhersehbarer Umstände entfallen. Dass ein sorglos verwahrter Hund angefahren und durch die dabei erlittenen Verletzungen bissig ist, liegt aber keineswegs außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung.

 

Aufgrund eines rechtswidrigen Verhaltens ist aber nur für jene Schäden zu haften, die die übertretene Verhaltensnorm gerade verhindern sollte. Der Schutzzweck jeder Norm ergibt sich aus ihrem Inhalt. Das Gericht hat das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren, um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den in einem konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten soll. Dabei genügt, dass die Verhinderung des Schadens bloß mitbezweckt ist; die Norm muss aber die Verhinderung eines Schadens wie des später eingetretenen zumindest intendiert haben. Wie weit der Normzweck (Rechtswidrigkeitszusammenhang) reicht, ist dabei eine Auslegungsfrage im Einzelfall.

 

Das Berufungsgericht konnte sich bei seiner Beurteilung auf die Entscheidung 3 Ob 507/96 stützen. Dieser Entscheidung lag ein Fall zugrunde, in dem ein infolge sorgloser Verwahrung verletzter Hund sich in eine Remise verkrochen hatte und den zur Hilfe gerufenen Tierarzt biss. In dieser Entscheidung verneinte der OGH den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der fehlerhaften Verwahrung und dem Hundebiss, weil der Tierarzt nicht etwa mit dem Einfangen eines frei herumlaufenden Hundes, der weiterhin eine Gefahr darstellen hätte können, sondern mit dessen Behandlung befasst war. Für sein Risiko, von einem verletzten Tier gebissen zu werden, sei der Ursprung von dessen Verletzung aber nicht ausschlaggebend.

 

Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall aber maßgeblich von dem der Entscheidung 3 Ob 507/96 zugrunde liegenden Sachverhalt. Für einen Tierarzt gehört es zu seiner Aufgabe, sich um verletzte Tiere zu kümmern. Das Risiko, dabei gebissen zu werden, ist unabhängig von der Ursache der Verletzung immer gleich hoch. Insoweit hat sich für den Tierarzt nur sein allgemeines Berufsrisiko verwirklicht. In der Entscheidung 3 Ob 507/96 wies der OGH auch darauf hin, dass der Fall gegebenenfalls anders zu beurteilen gewesen wäre, wenn sich der Hund noch freilaufend auf der Straße befunden hätte und eingefangen werden hätte müssen, um weiteren Gefahren vorzubeugen.

 

Im vorliegenden Fall verwirklichte sich demgegenüber nicht das allgemeine Berufs- oder Lebensrisiko des Klägers, sondern das spezifische Unfallrisiko. Insoweit ist der Fall nicht anders zu beurteilen, als wenn der Hund infolge sorgloser Verwahrung entkommen wäre, ohne einen Unfall zu verursachen, und direkt – etwa durch den Verkehrslärm erschreckt – einen Passanten gebissen hätte. Zudem blieb der Hund im vorliegenden Fall an der Unfallstelle liegen und machte diese damit weiter (noch) unsicherer.

 

Dass Hunde plötzlich auf offenen Straßen auftauchen und dadurch Verkehrsunfälle verursachen können, ist eine von der Rsp anerkannte Gefahr, der § 1320 ABGB vorzubeugen sucht. Der Schutzzweck von § 1320 ABGB erfasst aber auch die Vermeidung solcher Schäden, die anderen Personen als Teilnehmern des Fließverkehrs entstanden sind, sofern sie bei gehöriger Verwahrung unterblieben wären, selbst wenn kein geradezu atypisches, wohl aber ein objektiv vorhersehbares Verhalten des Tieres vorliegt.

 

In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rsp zu verweisen, wonach Folgeunfälle, die aufgrund der besonderen Gefahren einer Unfallstelle entstehen, im Adäquanz- und Rechtswidrigkeitszusammenhang mit dem Verschulden an der Erstkollision stehen. Dies gilt nach der Entscheidung 2 Ob 109/10h auch dann, wenn ein verletztes Wildtier auf der Straße liegen bleibt und deswegen einen Folgeunfall verursacht. Diese Überlegungen lassen sich aber auf den im vorliegenden Fall erfolgten „Folgebiss“ übertragen.

 

Damit ist aber die Verletzung des Klägers noch vom Schutzzweck des § 1320 ABGB umfasst. Dass ein unbeaufsichtigt auf die Straße laufender Hund verletzt werden kann und dann in der Folge aus Angst einen Passanten angreift, ist auch nicht gänzlich außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung.

 

Zu Recht wendet sich der Kläger auch gegen die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung. In der Entscheidung 4 Ob 170/09t erachtete der OGH bei unvorsichtiger Annäherung an eine welpenführende und damit als gefährlich erkennbare Hündin ein Mitverschulden von 25 % für vertretbar. In der Entscheidung 8 Ob 110/15g billigte der OGH eine Verschuldensteilung von 1:1 zwischen einem nicht ausreichend verwahrten Schäferhund und einer auf Inlineskates fahrenden Klägerin. Bei beiden Entscheidungen handelt es sich jedoch um die Zurückweisung außerordentlicher Revisionen. In der Entscheidung 8 Ob 110/15g wies der OGH ausdrücklich darauf hin, dass die Gewichtung des beiderseitigen Fehlverhaltens immer nur anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls erfolgen könne, sodass weder Anlass noch Möglichkeit für allgemein gültige Ausführungen des OGH bestehe. Eine unvertretbare Fehlbeurteilung werde nicht aufgezeigt.

 

Im Rahmen einer zulässigen Revision hat der OGH jedoch sich nicht auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Vorinstanzen den ihnen zukommenden Beurteilungsspielraum überschritten haben, sondern hat diese Frage selbständig zu prüfen.

 

Im vorliegenden Fall war der Kläger auf einer stark befahrenen Straße entsprechend den Bestimmungen der StVO auf dem Gehsteig unterwegs, um den Lenker des Unfallfahrzeugs zu ersuchen, die Fahrbahn nach dem Zusammenstoß mit dem von den Beklagten nicht ordnungsgemäß verwahrten Hund zu räumen. Berücksichtigt man, dass der Hund schon mehrfach auf die Straße gelaufen war und dass es sich dabei um eine stark befahrene Straße handelt, so tritt gegenüber der mangelhaften Verwahrung durch die beklagten Parteien eine allfällige Sorglosigkeit des Klägers in den Hintergrund, zumal der Hund nach den Feststellungen ruhig am Fahrbahnrand saß bzw lag.