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01.11.2016 Zivilrecht

OGH: § 19 StVO – zur Aufmerksamkeit des bevorrangten Lenkers

Sind die gegenseitigen Sichtverhältnisse – zB wie hier aufgrund der Geländebesonderheiten – extrem schlecht, muss ein potentiell benachrangter Kraftfahrer jedenfalls dann besondere Aufmerksamkeit walten lassen und seine Geschwindigkeit anpassen, wenn Anhaltspunkte dafür ersichtlich werden, dass möglicherweise eine Straße von rechts kreuzt – und daher eine mögliche Vorrangsituation bevorsteht


Schlagworte: Straßenverkehrsrecht, Schadenersatzrecht, Vorrang, Aufmerksamkeit, potentiell benachrangter Kraftfahrer
Gesetze:

 

§ 19 StVO, § 20 StVO, §§ 1295 ff ABGB

 

GZ 2 Ob 154/16k [1], 29.09.2016

 

OGH: Zwar darf auch der Lenker eines Vorrang genießenden Fahrzeugs auf Kreuzungen den Querverkehr nicht gänzlich unbeachtet lassen, weshalb er bei ungünstigen örtlichen Verhältnissen, die nur kurze Sicht bieten, ohne Rücksicht auf seinen Vorrang zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet ist. Er braucht aber nicht damit zu rechnen, dass jemand ohne Sicht nach rechts von links in die Kreuzung einfährt. Sind die Sichtverhältnisse ungünstig, hat in erster Linie der Wartepflichtige dieser Sichtbehinderung Rechnung zu tragen und sich daher rechtzeitig und ausreichend davon zu überzeugen, ob er aufgrund der örtlichen Gegebenheiten mit Querverkehr rechnen muss, dem er allenfalls Vorrang zu geben hat.

 

Die Revisonswerberin legt zutreffend dar, dass der auf einer bevorrangten Straße fahrende Verkehrsteilnehmer bei Annäherung an die Kreuzung seine Geschwindigkeit so wählen muss, dass er in der Lage bleibt, seinen Verpflichtungen im Verkehr Genüge zu tun, weshalb zwar Fälle denkbar sind, in denen sich auch der im Vorrang Befindliche nur mit Schrittgeschwindigkeit vortasten darf. Grundsätzlich hat aber dennoch der im Nachrang Befindliche seine Fahrweise darauf einzurichten, den Vorrang dort wahrnehmen zu können, wo er nach den konkreten örtlichen Verkehrsverhältnissen mit von rechts kommenden Fahrzeugen rechnen muss. Er hat sich daher, um den Vorrang des Querverkehrs bei Sichtbehinderung wahren zu können, äußerst vorsichtig in die Kreuzung vorzutasten. Einer Sichterschwernis hat damit in erster Linie der Wartepflichtige Rechnung zu tragen. Dagegen ist der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer nicht verpflichtet, seine zulässige Geschwindigkeit allein wegen der Annäherung an eine Kreuzung mit einer Straße ohne Vorrang oder deshalb herabzusetzen, weil die Querstraße schlecht einzusehen ist. Aus der für den Wartepflichtigen erschwerten Erkennbarkeit des Vorliegens einer Kreuzung kann nämlich nicht zu Lasten des Bevorrangten abgeleitet werden, dass an dieser Kreuzung andere, aus dem Gesetz nicht ersichtliche Regelungen über den Vorrang zu gelten hätten.

 

Diese Judikatur betrifft allerdings – soweit ersichtlich – Fälle, in denen grundsätzlich die Tatsache der Annäherung an eine Kreuzung erkennbar war. Eine Rechtspflicht, seine Geschwindigkeit so zu wählen, dass jederzeit und potentiell wegen einer allenfalls von rechts einmündenden Straße der Vorrang gewahrt werden könnte, existiert dagegen nicht. Vielmehr kommt es auf die Wahrnehmbarkeit des anderen Fahrzeugs an.

 

Sind aber die gegenseitigen Sichtverhältnisse – zB wie hier aufgrund der Geländebesonderheiten – extrem schlecht, muss ein potentiell benachrangter Kraftfahrer nach Ansicht des OGH jedenfalls dann besondere Aufmerksamkeit walten lassen und seine Geschwindigkeit anpassen, wenn Anhaltspunkte dafür ersichtlich werden, dass möglicherweise eine Straße von rechts kreuzt – und daher eine mögliche Vorrangsituation bevorsteht.

 

Dies war hier nach den Feststellungen für die Klägerin rund 20 m vor Erreichen des Einmündungstrichters der Fall. Ab diesem Zeitpunkt musste sie daher ihr Fahrverhalten auf eine mögliche, sie wartepflichtig machende Vorrangsituation einrichten.

 

Dazu, ob die Klägerin den Unfall ab diesem Zeitpunkt hätte verhindern können, hätte sie ihr Fahrverhalten situationsangepasst eingerichtet, was iSd Entscheidung 2 Ob 191/13x auch eine erhebliche Reduzierung der Geschwindigkeit bedeuten kann – wobei sich die Klägerin sogar trotz schlechter Witterungs- und Fahrbahnverhältnisse mit der im Unfallbereich geltenden Höchstgeschwindigkeit näherte, obwohl diese stets nur bei optimalen Verhältnissen ausgeschöpft werden durfte – hat das Erstgericht keine Feststellungen getroffen. Dies ist aufgrund der spezifischen örtlichen Situation (erhebliche Steigung, nasse Fahrbahn) auch nicht offenkundig.

 

Sollte sich eine Möglichkeit, den Unfall zu verhindern, nicht erweisen, wäre iSd Vorbringens der Beklagten auch zu untersuchen, ob die der Klägerin vorgeworfene relativ überhöhte Geschwindigkeit im Hinblick auf die Fahrbahn- und Witterungsverhältnisse insofern relevant wurde, als sie bei der deshalb allenfalls einzuhaltenden geringeren Geschwindigkeit die Kollision verhindern hätte können.

 

Sollte sich letztlich kein Verschulden eines beteiligten Fahrzeuglenkers ergeben, wäre weiters auf § 11 EKHG Bedacht zu nehmen.