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12.12.2016 Zivilrecht

OGH: Vorrang eines Radfahrers, der über die das Ende des Geh- und Radwegs anzeigende Haltelinie in die Sperrfläche einfährt?

Ein Verkehrsteilnehmer, der eine Verkehrsfläche benützt, die überhaupt nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregel berufen; das gilt auch für solche Verkehrsteilnehmer, die eine Einbahnstraße gegen die zulässige Richtung befahren, oder für einen Radfahrer, der entgegen § 68 Abs 1 StVO einen Gehsteig oder Gehweg in Längsrichtung befährt


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Vorrang geben, Gehweg,entgegen der Einbahnstraße, Sperrfläche, Mitverschulden
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 19 StVO, § 9 StVO, § 52 StVO, § 68 StVO, § 3 StVO, § 1304 ABGB

 

GZ 2 Ob 124/16y [1], 27.10.2016

 

OGH: Vorauszuschicken ist, dass das Erstgericht über die Gestaltung der an den Geh- und Radweg unmittelbar anschließenden viertelkreisförmigen Verkehrsfläche keine Feststellungen getroffen hat. Sie ergibt sich jedoch eindeutig aus den aktenkundigen Lichtbildern im Strafakt, auf dessen Inhalt sich die Streitteile zum Beweis ihrer jeweiligen Unfallsdarstellung beriefen, und ist zwischen den Parteien als unstrittig anzusehen. Es konnte daher die Beschreibung der Unfallsörtlichkeit noch durch das Revisionsgericht entsprechend ergänzt werden.

 

Bei der erwähnten Verkehrsfläche handelt es sich in rechtlicher Hinsicht nicht um einen Gehweg (§ 2 Abs 1 Z 11 StVO) und auch nicht um einen Geh- und Radweg (§ 2 Abs 1 Z 11a StVO), weil vor dieser Fläche das Verkehrszeichen „Ende eines Geh- und Radwegs“ angebracht ist. Sie erfüllt vielmehr alle Voraussetzungen eines Gehsteigs, den § 2 Abs 1 Z 10 StVO als einen für den Fußgängerverkehr bestimmten, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dgl abgegrenzten Teil der Straße definiert. Im vorliegenden Fall erfolgte die Abgrenzung durch eine doppelte Reihe von Pflastersteinen.

 

Der von der Rsp entwickelte Grundsatz, dass sich der Vorrang auf die ganze Fahrbahn der bevorrangten Straße bezieht und auch dann nicht verlorengeht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält, hat seine Richtigkeit in dem Fall, dass der bevorrangte Verkehr vom wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer wahrgenommen oder schuldhaft nicht wahrgenommen wird sowie dass mit einem Verkehr auf der bevorrangten Straße gerechnet werden muss. Er verliert jedoch dann seine Wirkung, wenn der auf der bevorrangten Straße fahrende Verkehrsteilnehmer vom Wartepflichtigen nicht oder nicht aus dieser Annäherungsrichtung erwartet werden kann, also mit einer derartigen Fahrweise nicht gerechnet werden konnte und musste. Ein Verkehrsteilnehmer, der eine Verkehrsfläche benützt, die überhaupt nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregel berufen. Das gilt auch für solche Verkehrsteilnehmer, die eine Einbahnstraße gegen die zulässige Richtung befahren, oder für einen Radfahrer, der entgegen § 68 Abs 1 StVO einen Gehsteig oder Gehweg in Längsrichtung befährt.

 

Im vorliegenden Fall musste der Kläger, um als Radfahrer in den Kreuzungsbereich gelangen zu können, zunächst die als Gehsteig zu qualifizierende Verkehrsfläche in Längsrichtung befahren, und seine Fahrt sodann über die daran anschließende Sperrfläche hinweg gegen die durch die Einbahnregelung vorgeschriebene Fahrtrichtung fortsetzen. Aus dieser Annäherungsrichtung musste der Erstbeklagte jedoch keinen Radfahrer erwarten, zumal ihm durch die zu seiner Rechten befindlichen Mauer die Sicht auf die als Geh- und Radweg ausgestaltete Verkehrsfläche, die 2 m vor der Mauerecke endet, völlig verdeckt gewesen ist.

 

In der vorliegenden Konstellation hätte sich der Kläger keineswegs – wie er in der Revisionsbeantwortung vorbringt – nach dem Ende des Geh- und Radwegs „in Luft auflösen“ müssen. Allerdings hätte er bei verkehrsgerechtem Verhalten die Kreuzung nur als Fußgänger, das Fahrrad schiebend, überqueren und dabei die Fahrbahn nicht überraschend betreten dürfen (§ 76 Abs 1 Satz 1 zweiter Halbsatz StVO).

 

Unter den gegebenen Umständen kann sich der Kläger daher nicht auf einen ihm zukommenden Vorrang berufen. Umgekehrt ist dem Erstbeklagten keine Vorrangverletzung vorwerfbar. Auf das nach Meinung des Berufungsgerichts in der Rsp des OGH uneinheitlich beurteilte Verhältnis der Vorrangregeln des § 19 Abs 4 und Abs 6a StVO kommt es daher nicht an.

 

Dem Verschulden des Klägers steht aber das rechtswidrige Befahren der Sperrfläche durch den Erstbeklagten gegenüber, wodurch dieser gegen die Schutznorm des § 9 Abs 1 StVO verstieß. Mit dem Anbringen der Sperrfläche sollten Fahrzeuglenker, die sich wie der Erstbeklagte auf der F*****straße der Kreuzung mit der R*****gasse annähern, offenkundig zur Einhaltung eines gewissen Seitenabstands zur erwähnten Mauer gebracht werden, wie dies aus den Lichtbildern näher ersichtlich ist. Der einzige erschließbare Sinn und Zweck dieser Maßnahme liegt in der Verbesserung der Sicht- und Reaktionsmöglichkeiten auf vom Geh- und Radweg bzw dem daran anschließenden Gehsteig der R*****gasse kommende Verkehrsteilnehmer, auch (und gerade) wenn diese sich verkehrswidrig verhalten sollten. Der Kläger war in der Unfallsituation daher vom Schutzzweck der zitierten Bestimmung erfasst. Das Befahren der Sperrfläche durch den Erstbeklagten war nach den Feststellungen auch unfallskausal.

 

Wägt man nun die beiderseitigen Verstöße gegeneinander ab, so ist eine Verschuldensteilung von 1 : 3 zu Lasten des Klägers angemessen (§ 1304 ABGB).