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24.07.2017 Zivilrecht

OGH: Zur eingeschränkten Fahrtüchtigkeit durch Medikamenten-Einnahme

Bei einer aufgrund ärztlicher Anordnung erfolgten Einnahme von Medikamenten wirkt die Verletzung des § 58 Abs 1 StVO idR nicht schulderschwerend, sondern haftungsbegründend; trifft den nur eingeschränkt fahrtüchtigen Lenker an der Unkenntnis der Einschränkung ein Verschulden, so haftet er aus diesem Grund, sofern die eingeschränkte Fahrtüchtigkeit für den Eintritt des Schadens auch ursächlich war


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Fahrtüchtigkeit, Einnahme von Medikamenten, Alkohol, Suchtgift, Verschulden, Unkenntnis
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 5 StVO, § 58 StVO

 

GZ 2 Ob 117/16v [1], 26.06.2017

 

OGH: Gem § 58 Abs 1 Satz 1 StVO darf unbeschadet des § 5 Abs 1 StVO ein Fahrzeug nur lenken, „wer sich in einer solchen körperlichen und geistigen Verfassung befindet, in der er ein Fahrzeug zu beherrschen und die beim Lenken eines Fahrzeuges zu beachtenden Rechtsvorschriften zu befolgen vermag. 58 Abs 1 StVO ist lex generalis gegenüber § 5 Abs 1 StVO, wonach eine durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigte Person ein Fahrzeug weder lenken noch in Betrieb nehmen darf. Nach stRsp ist eine Alkoholisierung zwar schulderschwerend, nicht aber haftungsbegründend; die schulderschwerende Wirkung setzt voraus, dass der unter dem Einfluss von Alkohol stehende Verkehrsteilnehmer gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften verstieß. Mangels eines solchen Verstoßes bleibt auch die Alkoholisierung außer Betracht. Die Annahme einer schulderschwerenden, nicht aber haftungsbegründenden Wirkung ist auf die Verletzung der Schutznorm des § 58 Abs 1 StVO infolge der Einnahme von Medikamenten aber nicht ohne weiteres übertragbar.

 

Abgesehen vom Fall des Missbrauchs dienen Medikamente - anders als Alkohol oder Suchtgift - üblicherweise nicht dem „Genuss“ des Patienten, sondern sind ärztlich verordnete Heilmittel. Während ein verantwortungsvoller Fahrzeuglenker die ihm in Bezug auf seine Fahrtüchtigkeit obliegende Eigenverantwortung in den Fällen des § 5 Abs 1 StVO idR leicht wahrnehmen kann, wird er die Wirkung von Medikamenten häufig erst nach entsprechender fachlicher Aufklärung richtig einschätzen können. Unterlässt er eine gebotene Erkundigung, wäre ihm (nur) diese Unterlassung, nicht aber die seine Fahrtüchtigkeit einschränkende Einnahme der Medikamente vorwerfbar. Allgemein trifft den Fahrzeuglenker, der Medikamente einnimmt, zunächst nur die Pflicht, die für ihn bestimmten Gebrauchsinformationen in den Beipackzetteln zu lesen, nicht aber auch die Fachinformationen im Internet. Ergeben sich aus den Gebrauchsinformationen Hinweise auf eine mögliche Einschränkung seiner Fahrtüchtigkeit, obliegt es ihm, Erkundigungen beim Arzt oder beim Apotheker einzuholen, sofern nicht ohnedies bereits eine ärztliche Aufklärung erfolgte. Sind solche Erkundigungen nicht möglich, hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, welche sonstigen konkreten Bemühungen er allenfalls unternehmen muss. Im Zweifel hat er das Lenken eines Fahrzeugs zu unterlassen

 

Bei einer aufgrund ärztlicher Anordnung erfolgten Einnahme von Medikamenten ist daher die schuldhafte Verletzung des § 58 Abs 1 StVO idR nicht schulderschwerend, sondern gegebenenfalls haftungsbegründend. Trifft den nur eingeschränkt fahrtüchtigen Lenker an der Unkenntnis der Einschränkung ein Verschulden, so haftet er aus diesem Grund, sofern die eingeschränkte Fahrtüchtigkeit für den Eintritt des Schadens auch ursächlich war.