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18.12.2017 Zivilrecht

OGH: Verkehrsunfall mit im Ortsgebiet zu schnell fahrendem Motorradfahrer und unmittelbar nach dem Ortsgebiet ohne Handzeichen links abbiegendem Fahrradfahrer

Nach stRsp besteht kein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Überschreitung einer für einen bestimmten Bereich festgesetzten Höchstgeschwindigkeit und einem Unfall, der sich außerhalb dieses Bereichs ereignete; dem Kläger ist es nicht gelungen, die Einhaltung der nach § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt zu beweisen; zum einen ist ihm der Beweis nicht gelungen, dass er die auf der Freilandstraße zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h einhielt; zum anderen war für ihn erkennbar, dass der Beklagte einhändig fuhr und in der rechten Hand eine Hacke hielt; damit war es ihm nicht möglich, ein Handzeichen zum Abbiegen nach links zu geben; auch wenn keine schwankende Fahrlinie und kein (anderes) „auffälliges“ Verhalten des Beklagten festgestellt werden konnte, musste der Kläger nach dem strengen Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs 2 EKHG allein dies zum Anlass nehmen, seine Geschwindigkeit zu reduzieren und mit dem Beklagten vor dem Beginn des Überholens Kontakt aufzunehmen


Schlagworte: Straßenverkehrsrecht, Schadenersatzrecht, Gefährdungshaftung, im Ortsgebiet zu schnell fahrender Motorradfahrer, auf Landstraße ohne Handzeichen links abbiegender Fahrradfahrer, Rechtswidrigkeitszusammenhang, unabwendbares Ereignis, Sorgfaltsmaßstab
Gesetze:

 

§ 20 StVO, § 11 StVO, § 12 StVO, §§ 1295 ff ABGB, § 9 EKHG

 

GZ 2 Ob 155/17h [1], 24.10.2017

 

OGH: Es ist unstrittig, dass den Beklagten wegen des Verstoßes gegen § 11 Abs 2 und § 12 Abs 1 StVO ein Verschulden am Unfall trifft; dazu kommt ein Verstoß gegen § 68 Abs 5 StVO (Mitführen von behindernden Gegenständen am Fahrrad). Zu prüfen ist daher nur die Mitverantwortung des Klägers. Ihn trifft zwar kein Verschulden (siehe unten), wohl aber hat er zufolge Misslingen des Entlastungsbeweises nach § 9 EKHG für die Betriebsgefahr seines Motorrads einzustehen (siehe unten).

 

Die Revision zeigt zutreffend auf, dass der Verstoß des Klägers gegen § 20 Abs 2 StVO nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit dem Unfall steht. Sonst fällt dem Kläger kein schuldhaftes Verhalten zur Last.

 

Nach stRsp besteht kein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Überschreitung einer für einen bestimmten Bereich festgesetzten Höchstgeschwindigkeit und einem Unfall, der sich außerhalb dieses Bereichs ereignete. Dies gilt insbesondere für das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in einem Ortsgebiet; die einen Unfall außerhalb des Ortsgebiets zur Folge hat; die Geschwindigkeitsbeschränkung hat nicht den Zweck, solche Unfälle zu verhindern. Dabei lagen den zu diesen Rechtssätzen indizierten Entscheidungen 8 Ob 274/71, 2 Ob 229/75 und 2 Ob 257/75 Sachverhalte zugrunde, in denen eine an sich zulässige Bremsausgangsgeschwindigkeit bei vorherigem Einhalten einer an dieser Stelle nicht mehr geltenden Geschwindigkeitsbeschränkung nicht hätte erreicht werden können. In 8 Ob 132/82 hatte sich der Unfall überhaupt – wie hier – nur knapp außerhalb des Ortsgebiets ereignet, wobei der Beklagte im Ortsgebiet mit 75 km/h gefahren war und den Bremsentschluss offenkundig noch innerhalb des Ortsgebiets gefasst hatte. Gründe für ein Abgehen von dieser Rsp zeigt weder das Berufungsgericht noch die Revisionsbeantwortung auf. Insbesondere kann aus der vom Berufungsgericht genannten Entscheidung 4 Ob 65/85 nichts Gegenteiliges abgeleitet werden, da sich dort der durch Aquaplaning verursachte Unfall innerhalb des Ortsgebiets ereignet und der beklagte Lenker auch eine relativ deutlich überhöhte Geschwindigkeit eingehalten hatte.

 

Im vorliegenden Fall hat der Kläger zwar gegen § 20 Abs 2 StVO verstoßen, wobei dieser Verstoß auch kausal für den Unfall war. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang ist aber nach der oben dargestellten Rsp zu verneinen, weil sich der Unfall außerhalb des Ortsgebiets ereignete. Ein Überschreiten der auf der Freilandstraße erlaubten Höchstgeschwindigkeit ist nicht erwiesen, weil die Vorinstanzen keine positive Feststellung über eine höhere Geschwindigkeit als 71 km/h treffen konnten. Die Beweislast trifft hier den Gegner.

 

Der Kläger haftet allerdings als Halter des Motorrads nach §§ 1, 5 EKHG.

 

Ereignet sich ein Unfall beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs, so ist der Halter für das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses iSv § 9 EKHG beweispflichtig; allfällige Zweifel gehen daher zu seinen Lasten. Die Haftung ist nach § 9 Abs 2 EKHG insbesondere dann ausgeschlossen, wenn der Unfall (wie hier) auf ein Verhalten des Geschädigten zurückzuführen ist und der Kläger jede nach den Umständen des Falls gebotene Sorgfalt beachtet hatte. Die nach dieser Bestimmung gebotene Sorgfalt ist die äußerste nach den Umständen des Falls mögliche Sorgfalt. Sie darf zwar nicht überspannt werden; an den Halter dürfen keine unzumutbaren, praktisch unmöglichen Anforderungen gestellt werden. Im Rahmen des Zumutbaren muss aber alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte.

 

Dem Kläger ist es nicht gelungen, die Einhaltung der nach § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt zu beweisen. Zum einen ist ihm der Beweis nicht gelungen, dass er die auf der Freilandstraße zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h einhielt. Zum anderen war für ihn erkennbar, dass der Beklagte einhändig fuhr und in der rechten Hand eine Hacke hielt. Damit war es ihm nicht möglich, ein Handzeichen zum Abbiegen nach links zu geben. Auch wenn keine schwankende Fahrlinie und kein (anderes) „auffälliges“ Verhalten des Beklagten festgestellt werden konnte, musste der Kläger nach dem strengen Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs 2 EKHG allein dies zum Anlass nehmen, seine Geschwindigkeit zu reduzieren und mit dem Beklagten vor dem Beginn des Überholens Kontakt aufzunehmen.

 

Im Ergebnis stehen einander daher die Verschuldenshaftung des Beklagten und – wegen des Misslingens des Entlastungsbeweises nach § 9 EKHG – die Gefährdungshaftung des Klägers gegenüber. Letztere muss sich der Kläger auch in Bezug auf seinen eigenen Schaden anrechnen lassen. Bei Abwägen der Zurechnungselemente ist angesichts des schwerwiegenden Fehlverhaltens des Beklagten eine Schadensteilung von 3 zu 1 zu dessen Lasten angebracht. Die Klageforderung besteht daher mit drei Vierteln des Schadens des Klägers zu Recht (4.775,52 EUR), die Gegenforderung mit einem Viertel des Schadens des Beklagten (2.097,63 EUR). Dem Begehren ist daher mit 2.677,90 EUR stattzugeben; das Mehrbegehren ist abzuweisen.