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27.02.2018 Zivilrecht

OGH: Arzthaftung – zum Gewicht des Selbstbestimmungsrechts des Patienten bei der ärztlichen Aufklärungspflicht und dem Patientenwohl (iZm Untersuchung eines Karzinoms am Hoden im Schnellschnittverfahren und Hodenverlust trotz gutartigem Tumor)

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten von der Rsp von vornherein ein „Nachrang“ nach einer – hier – scheinbar im Patientenwohl liegenden Behandlung zugesonnen würde; für die Reichweite der ärztlichen Aufklärungspflicht ist damit die stRsp maßgeblich, wonach die ärztliche Aufklärungspflicht umso weiter reicht, je weniger der Eingriff aus der Sicht eines vernünftigen Patienten vordringlich oder geboten ist; im vorliegenden Fall lagen keine unvorhersehbaren Umstände vor, über die der Kläger nicht aufgeklärt wurde; vielmehr steht fest, dass die ihm dargelegte Operationsmethode mit intraoperativer Schnellschnittuntersuchung – mag sie auch das beste derzeit zur Verfügung stehende Verfahren sein – von vornherein nicht mit Sicherheit zwischen bös- und gutartigen Tumoren unterscheiden kann und man „oft falsche (falschpositive, falschnegative) histologische Erstbefunde erhält“ und erst „die endgültige Aufarbeitung des Präparates die Diagnose eines Hodentumors zulässt“; damit haftete dem Eingriff schon seiner Art nach ein auch bei Anwendung allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung nicht sicher zu vermeidendes Risiko an (Typizität der Gefahr), nämlich die uU überflüssige Totalentfernung eines Hodens selbst bei gutartigem Tumor wie umgekehrt das mit dem Streurisiko verbundene Belassen eines Hodens selbst bei bösartigem Tumor; dieses Risiko aus einem möglicherweise falschen Testergebnis wurde dem Kläger nicht vermittelt; er erhielt die Information, dass bei der durchzuführenden Operation zunächst der Hoden angesehen werde, dann ein Schnellschnittverfahren angewandt und eine Biopsie gemacht werde und für den Fall, dass der Tumor gutartig sei, der Tumor herausgekratzt und falls er bösartig sein, der Hoden entfernt werde; damit wurde dem Kläger die Sicherheit suggeriert, dass der Hoden nur dann entfernt wird, wenn der Tumor tatsächlich bösartig ist


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Arzthaftung, Selbstbestimmungsrecht, Patientenwohl, Aufklärungspflicht,Untersuchung eines Karzinoms am Hoden im Schnellschnittverfahren, Hodenverlust trotz gutartigem Tumor
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB

 

GZ 9 Ob 72/17d [1], 18.12.2017

 

OGH: Der mit dem Arzt oder dem Träger eines Krankenhauses abgeschlossene Behandlungsvertrag umfasst auch die Pflicht, den Patienten über die möglichen Gefahren und schädlichen Folgen der Behandlung zu unterrichten. Der Patient kann nur dann wirksam seine Einwilligung geben, wenn er über die Bedeutung des vorgesehenen Eingriffs und seine möglichen Folgen hinreichend aufgeklärt wurde. Hat die ohne Einwilligung oder ohne ausreichende Aufklärung des Patienten vorgenommene eigenmächtige Behandlung des Patienten nachteilige Folgen, haftet der Arzt, wenn der Patient ansonsten in die Behandlung nicht eingewilligt hätte, für diese Folgen selbst dann, wenn ihm bei der Behandlung kein Kunstfehler unterlaufen ist. Für den Fall der Verletzung der Aufklärungspflicht trifft den Arzt bzw den Krankenhausträger die Beweislast dafür, dass der Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung zu der ärztlichen Maßnahme erteilt hätte, geht es doch darum, dass der Arzt bzw Krankenhausträger das Vorliegen eines die Rechtswidrigkeit des Eingriffe ausschließenden Rechtfertigungsgrundes zu behaupten und zu beweisen hat.

 

Grundlage für eine Haftung des Arztes oder des Krankenhausträgers wegen einer Verletzung der Aufklärungspflicht ist in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in dessen körperliche Integrität durch den ärztlichen Eingriff eingegriffen wird. Die Aufklärung des Patienten ist somit nicht Selbstzweck. Vielmehr ist für den Umfang der ärztlichen Aufklärung entscheidend, dass der Patient als Aufklärungsadressat die für seine Entscheidung (Zustimmung zum Eingriff) maßgebenden Umstände erfährt, sodass er über eine ausreichende Entscheidungsgrundlage verfügt. Der Patient soll durch die ärztliche Aufklärung in die Lage versetzt werden, die Tragweite seiner Entscheidung zu überschauen und eine sachgerechte Entscheidung zu treffen.

 

Das Berufungsgericht hat für seine Beurteilung den Rechtssatz RIS-Justiz RS0026362 ins Treffen geführt, nach dem der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Wohles des Patienten und erst in zweiter Linie auch unter Bedachtnahme auf sein Selbstbestimmungsrecht abzugrenzen ist. Aus keiner der dazu angeführten Entscheidungen der letzten Jahre geht jedoch ein Verständnis dieses Rechtssatzes dahin hervor, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten – und damit einhergehend die Pflicht zu seiner Aufklärung – gegenüber dem Patientenwohl von sekundärer Bedeutung und zu reduzieren wäre, wenn eine Behandlungsmethode ohnedies dem Wohl des Patienten dient (die Entscheidungen 9 Ob 55/16b und 6 Ob 214/14k betrafen jeweils Fälle, in denen diagnostisch keine Anhaltspunkte für das Risiko, das sich später verwirklichte, gegeben waren; die Entscheidung 3 Ob 94/14s stützt sich nicht auf den Rechtssatz als solchen; die – die Frage der Aufklärung über Behandlungsalternativen betreffende – Entscheidung 4 Ob 241/12p führt „in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht“ des Patienten an, ohne dies als Widerspruch zum „Wohl des Patienten“ zu erachten; die Entscheidung 8 Ob 140/06f respektierte einen trotz Zeitdruck erklärten selbstbestimmten Patientenwunsch nach einer Eingriffserweiterung [Sterilisation], wenn die zentrale Information vorab erteilt wurde). Den Entscheidungen ist auch nicht zu entnehmen, dass die Aufklärung über ein typisches behandlungsimmanentes Risiko entfallen kann, wenn es keine gleichwertigen alternativen Behandlungsmethoden gibt, muss es einem Patienten doch auch freistehen, eine Behandlung in Ansehung eines solchen typischen Risikos generell oder auch nur vor Einholung einer weiteren Meinung abzulehnen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten von der Rsp von vornherein ein „Nachrang“ nach einer – hier – scheinbar im Patientenwohl liegenden Behandlung zugesonnen würde.

 

Für die Reichweite der ärztlichen Aufklärungspflicht ist damit die stRsp maßgeblich, wonach die ärztliche Aufklärungspflicht umso weiter reicht, je weniger der Eingriff aus der Sicht eines vernünftigen Patienten vordringlich oder geboten ist. Dann ist die ärztliche Aufklärungspflicht im Einzelfall selbst dann zu bejahen, wenn erhebliche nachteilige Folgen wenig wahrscheinlich sind. Ist der Eingriff zwar medizinisch empfohlen, aber nicht eilig, so ist eine umfassende Aufklärung notwendig.

 

Grundsätzlich muss der Arzt aber nicht auf alle nur denkbaren Folgen einer Behandlung hinweisen. Bei Vorliegen sog typischer Gefahren ist die ärztliche Aufklärungspflicht verschärft. Die Typizität ergibt sich nicht aus der Komplikationshäufigkeit, sondern daraus, dass das Risiko speziell dem geplanten Eingriff anhaftet und auch bei Anwendung allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung nicht sicher zu vermeiden ist; der uninformierte Patient wird überrascht, weil er nicht mit der aufgetretenen Komplikation rechnete. Diese typischen Risiken müssen erhebliche Risiken sein, die geeignet sind, die Entscheidung des Patienten zu beeinflussen, ohne dass dabei nur auf die Häufigkeit der Verwirklichung dieses Risikos abzustellen wäre.

 

Im vorliegenden Fall lagen keine unvorhersehbaren Umstände vor, über die der Kläger nicht aufgeklärt wurde. Vielmehr steht fest, dass die ihm dargelegte Operationsmethode mit intraoperativer Schnellschnittuntersuchung – mag sie auch das beste derzeit zur Verfügung stehende Verfahren sein – von vornherein nicht mit Sicherheit zwischen bös- und gutartigen Tumoren unterscheiden kann und man „oft falsche (falschpositive, falschnegative) histologische Erstbefunde erhält“ und erst „die endgültige Aufarbeitung des Präparates die Diagnose eines Hodentumors zulässt“. Damit haftete dem Eingriff schon seiner Art nach ein auch bei Anwendung allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung nicht sicher zu vermeidendes Risiko an (Typizität der Gefahr), nämlich die uU überflüssige Totalentfernung eines Hodens selbst bei gutartigem Tumor wie umgekehrt das mit dem Streurisiko verbundene Belassen eines Hodens selbst bei bösartigem Tumor. Dieses Risiko aus einem möglicherweise falschen Testergebnis wurde dem Kläger nicht vermittelt. Er erhielt die Information, dass bei der durchzuführenden Operation zunächst der Hoden angesehen werde, dann ein Schnellschnittverfahren angewandt und eine Biopsie gemacht werde und für den Fall, dass der Tumor gutartig sei, der Tumor herausgekratzt und falls er bösartig sein, der Hoden entfernt werde. Damit wurde dem Kläger die Sicherheit suggeriert, dass der Hoden nur dann entfernt wird, wenn der Tumor tatsächlich bösartig ist. Anderes konnte auch nicht daraus abgeleitet werden, dass es sich um ein Schnellverfahren handelt, weil ein Patient daraus nicht auf oft falsche histologische Testergebnisse schließen muss. Der Kläger hat seine Einwilligung zum geplanten Eingriff damit auf der Grundlage einer Information erteilt, die nicht dem typischen Risiko des Eingriffs entsprach. Unter Aspekten der Dringlichkeit des Eingriffs sind auch keine Gründe dafür ersichtlich, warum es nicht möglich gewesen wäre, den Kläger im Zuge der Aufklärungsgespräche darauf hinzuweisen, dass es nach Maßgabe der Ergebnisse des Schnelltests selbst bei gutartigem Tumor zu einem Hodenverlust kommen kann. Dies wiegt hier umso schwerer, als sich der Kläger insofern in einer Sondersituation befand, als er bereits einen Hoden verloren hatte und damit sein Sexualleben auf dem Spiel stand. Dafür, dass sich der Kläger auch in Kenntnis des Risikos jener Operation unterzogen hätte, wäre nach den dargelegten Grundsätzen die Beklagte behauptungs- und beweispflichtig gewesen. Dazu wurde von ihr jedoch kein Vorbringen erstattet.

 

Wie bereits das Erstgericht ausführte, wäre hier daher im Ergebnis eine Aufklärung darüber, dass das Ergebnis des Schnellschnittverfahrens falsch sein kann, erforderlich gewesen, um dem Kläger eine ausreichende Informationsgrundlage für seine Entscheidung über den Eingriff zu schaffen. Da diese pflichtwidrig unterblieb, ist eine Haftung der Beklagten zu bejahen.