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14.05.2018 Zivilrecht

OGH: Zum Ersatz des ideellen Schadens bei der Vertauschung von Babys

Die Vertauschung von Babys unmittelbar nach der Geburt ist eine massivste Beeinträchtigung der Eltern und des Kindes, die der Tötung oder „schwersten“ Verletzung eines nahen Angehörigen vergleichbar ist


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Trauerschmerzengeld, Trauerschaden, Ersatz ideeller Schäden, grobe Fahrlässigkeit, vertauschte Babys
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1325 ABGB, § 1331 ABGB

 

GZ 4 Ob 208/17t [1], 22.03.2018

 

OGH: Der OGH begründet den Anspruch naher Angehöriger auf Ersatz des reinen Trauerschadens bei Tötung eines Angehörigen damit, dass es besonders befremdlich ist, wenn das Gesetz bei Beschädigung einer Sache unter bestimmten Voraussetzungen Gefühlsschäden ausdrücklich berücksichtigt (§ 1331 ABGB), bei Tötung eines geliebten Menschen hingegen nicht. Es ist daher eine Gesetzeslücke anzunehmen und diese im Wege der Analogie zu schließen. Nach mittlerweile stRsp kommt ein Ersatz des Seelenschmerzes über den Verlust naher Angehöriger, der zu keiner eigenen Gesundheitsschädigung iSd § 1325 ABGB geführt hat, nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz des Schädigers in Betracht. Auch iZm der schuldhaften Vereitelungen des Kontaktrechts eines Elternteils zum Kind durch den anderen Elternteil lehnt der OGH den Ersatz seelischer Schmerzen ohne Krankheitswert jedenfalls bei bloß leichter Fahrlässigkeit ab. Ebenso verlangt er für den Zuspruch von Trauerschmerzengeld bei einer im Zuge eines Krankenhausaufnahmevertrags durch grob fahrlässige Fehlbehandlung verursachten Totgeburt grobe Fahrlässigkeit.

 

Im Anlassfall der Vertauschung von Babys unmittelbar nach der Geburt liegt eine massivste Beeinträchtigung der Eltern und des Kindes vor, die der Tötung oder „schwersten“ Verletzung eines nahen Angehörigen vergleichbar ist: Die Eltern werden aller Voraussicht nach nie erfahren, was mit ihrem leiblichen Kind passiert ist, wie es ihm ergangen ist, ob es überhaupt noch lebt, ob es die Liebe bekommen hat, die ihm seine wahren Eltern hätten schenken wollen. Das Kind hat über 20 Jahre in dem Glauben gelebt, bei seinen leiblichen Eltern aufzuwachsen, und dann erfahren, dass seine Identität auf einem Irrtum beruht. Seine biologische Herkunft wird ihm voraussichtlich immer verborgen bleiben. Es ist ihnen daher in Übereinstimmung mit den zum Trauerschmerzengeld entwickelten Grundsätzen Ersatz für den erlittenen Seelenschmerz zu gewähren. Dass der Seelenschmerz vom Schädiger in diesem Fall unmittelbar zugefügt wurde (und nicht mittelbar durch Schädigung eines nahen Angehörigen), ist insofern von Bedeutung, als nicht auf die intensive Gefühlsgemeinschaft zwischen dem mittelbar und unmittelbar Geschädigten abgestellt werden muss, um den ersatzberechtigten Angehörigenkreis einzugrenzen. Dass die Vertauschung und damit verbunden das Verschwinden des leiblichen Kindes typischerweise in hohem Maß geeignet ist, zu einer Trauerreaktion bei den Eltern zu führen, und dies ein maßstabgerechter Mensch ex ante erkennen kann, bedarf keiner näheren Erörterung. Gleiches gilt für die durch die Vertauschung ausgelöste Identitätskrise bei dem betroffenen Kind.

 

Für die hier vorliegende quälende Ungewissheit und die „Verschiebung“ des Familiengefüges ist jedem Elternteil und dem Kind ein Betrag von € 20.000 zuzusprechen.