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25.02.2019 Zivilrecht

OGH: Brand durch Selbstentzündung von Gewerbemüll auf behördlich genehmigter Abfallentsorgungsanlage – analoge Anwendung des § 364a ABGB?

Fest steht, dass sich behördlich genehmigt gelagerter Gewerbemüll selbst entzündete; weiters steht fest, dass infolge von im Gewerbemüll grundsätzlich enthaltenen „Fehlwürfen“ (zB Batterien, Unkrautvernichtungsmittel oder Rattengift) iVm Feuchtigkeit die Gefahr einer solchen Selbstentzündung besteht, und dass sich diese Gefahr in der Vergangenheit bereits früher einmal (wenn auch mit weniger weitreichenden Folgen als nunmehr) verwirklicht hatte; das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, dass im vorliegenden Fall durch die behördliche Genehmigung des Betriebs einschließlich der Lagerung von Gewerbemüll die faktische Vermutung deren Gefahrlosigkeit bestanden habe, und dass eine Unterlassungsklage praktisch aussichtslos gewesen und zu spät gekommen wäre; dass die aus dieser Selbstentzündung des – den Gegenstand der Bewilligung und des Geschäftsbetriebs der Beklagten bildenden – gefahrenträchtigen Gewerbemülllagers adäquat resultierenden Folgen jedenfalls ein Fall der analogen Anwendung des § 364a ABGB und diese Immissionen auch im Einzelfall betriebstypisch sind (auch wenn der konkrete Auslöser des Brandes nicht feststellbar war), hält sich im Rahmen der aufgezeigten Rsp und des den Gerichten in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessensspielraums


Schlagworte: Nachbarrecht, behördlich genehmigte Anlage, verschuldensunabhängiger Ausgleichsanspruch, Unterlassungsanspruch, adäquat verursacht
Gesetze:

 

§ 364a ABGB, § 364 ABGB

 

GZ 4 Ob 233/18w [1], 29.01.2019

 

In der nach dem AWG behördlich genehmigten Abfallentsorgungsanlage der Beklagten geriet dort gelagerter Gewerbemüll durch Selbstentzündung in Brand. Wegen der Rauchentwicklung musste der auf einer unmittelbaren Nachbarliegenschaft im Schichtbetrieb organisierte Fertigungsbetrieb der Klägerin mehrere Stunden lang eingestellt werden. Die Klägerin begehrt – gestützt auf § 364a ABGB per analogiam – den Ersatz von frustrierten Lohnkosten, des Mehraufwands für die Wiederinbetriebnahme der Produktion und entgangenen Gewinn.

 

OGH: Nach § 364 Abs 2 ABGB kann der Eigentümer eines Grundstücks dem Nachbarn die von dessen Grund ausgehenden Einwirkungen durch Abwässer, Rauch, Gase, Wärme, Geruch, Geräusch, Erschütterung und ähnliche insoweit untersagen, als sie das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreiten und die ortsübliche Benutzung des Grundstücks wesentlich beeinträchtigen. Nach § 364a ABGB ist jedoch, wenn die Beeinträchtigung durch eine behördlich genehmigte Anlage verursacht wird, der Grundbesitzer nur berechtigt, den Ersatz des zugefügten Schadens gerichtlich zu verlangen, auch wenn der Schaden durch Umstände verursacht wird, auf die bei der behördlichen Verhandlung keine Rücksicht genommen wurde.

 

Voraussetzung eines Anspruchs nach § 364a ABGB ist der Betrieb einer behördlich genehmigten Anlage. Der Nachbar hat also keine Möglichkeit, sich gegen eine von einer benachbarten behördlich genehmigten Anlage ausgehende Einwirkung der im § 364 Abs 2 ABGB bezeichneten Art mit Unterlassungsklage zur Wehr zu setzen. Als Ersatz für diese Eigentumsbeschränkung gewährt § 364a ABGB einen verschuldensunabhängigen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch.

 

Von den Nachbarn sind solche Immissionen hinzunehmen, die für den Betrieb der genehmigten Anlage typisch sind und auch nicht durch zumutbare Vorkehrungen hintangehalten oder verringert werden können. Soweit eine genehmigte Anlage vorliegt und sich deren Emissionen im Rahmen der Genehmigung halten, besteht lediglich ein Ausgleichsanspruch nach § 364a ABGB, jedoch kein Unterlassungsanspruch nach § 364 Abs 2 ABGB. Nicht aus der Emissionsneigung des Betriebs kommende Immissionen oder im Betrieb entstandene Gefahren anderer Art brauchen nicht geduldet zu werden; für sie gebührt daher auch kein (verschuldensunabhängiger) Ausgleich.

 

Die Frage, ob eine bestimmte Immission für den Betrieb einer bestimmen Anlage typisch ist, kann nur einzelfallbezogen beantwortet werden. Maßgebend für die Typizität einer Emission ist nicht primär deren Regelmäßigkeit; die Ersatzpflicht gilt auch für Schäden, die dem Nachbarn durch einmalige Vorfälle entstehen, wenn es sich um für den Betrieb der Anlage typische Emissionen handelt oder die Immission aus für den konkreten Betrieb typischen Verrichtungen herrührt.

 

Die stRsp billigt den verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch nach § 364a ABGB auch dann zu, wenn sich aus der Interessenlage ausreichende Anhaltspunkte für eine Analogie zu dieser Bestimmung ergeben. Dem Geschädigten muss ein Abwehrrecht genommen sein, das ihm nach dem Inhalt seines Eigentums „an sich“ zugestanden wäre. Auch die analoge Anwendung des § 364a ABGB setzt voraus, dass die Immission von der schadenverursachenden Anlage ausgeht und für deren Betrieb typisch ist; die Beweislast für die Typizität trifft den Geschädigten.

 

Es ist maßgebend, ob der Eintritt des Schadens für den Haftpflichtigen ein objektiv kalkulierbares oder gar kalkuliertes Risiko bildete, das er zu seinem Nutzen eingegangen ist. Erfasst sind daher alle adäquaten Schäden, die aus dem besonderen Gefährdungspotenzial der Anlage resultieren. Eine adäquate Verursachung ist (nur) dann nicht anzunehmen, wenn ein Verhalten seiner Natur nach völlig ungeeignet erscheint, einen Erfolg nach der Art des eingetretenen herbeizuführen und nicht bloß eine außergewöhnliche Verkettung der Umstände vorliegt.

 

Ob im Einzelfall ein Schaden noch als adäquate Folge eines schädigenden Ereignisses anzusehen ist, betrifft im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO, weil dabei die Umstände des Einzelfalls maßgebend sind und der Lösung dieser Frage keine über den Anlassfall hinausgehende und daher keine erhebliche Bedeutung zukommt.

 

Eine dem § 364a ABGB analoge Situation wird von der Rsp etwa in Fällen angenommen, in denen durch eine Bewilligung der Anschein der Gefahrlosigkeit und damit der Rechtmäßigkeit der bewilligten Maßnahme hervorgerufen und (infolge des mit einer behördlichen Genehmigung zunächst verbundenen Anscheins der Gesetzmäßigkeit und Gefahrlosigkeit der bewilligten Maßnahmen) die Abwehr faktisch erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird, so dass der Nachbar die Maßnahme praktisch hinnehmen muss.

 

Auch wenn erfahrungsgemäß eine Unterlassungsklage gegen gefährliche Tätigkeiten auf dem Grund des Nachbarn zu spät kommen muss, befindet sich der von einer Einwirkung Betroffene in einer ähnlichen Situation wie derjenige, dem eine Unterlassungsklage verwehrt ist, so dass auch hier eine analoge Anwendung des § 364a ABGB gerechtfertigt ist. Es wird daher auch in Fällen fehlender behördlicher Genehmigung eine Regelungslücke angenommen, die durch analoge Heranziehung der im § 364a ABGB (auch) enthaltenen Gefährdungshaftung geschlossen werden kann, wenn ein Immissionsschaden auftritt und einerseits der geschädigte Nachbar der Schadensgefahr ausgeliefert war und andererseits für den Haftpflichtigen der Eintritt des Schadens ein kalkuliertes Risiko darstellt, das er zu seinem Nutzen eingegangen ist.

 

Im vorliegenden Fall steht fest, dass sich behördlich genehmigt gelagerter Gewerbemüll selbst entzündete. Weiters steht fest, dass infolge von im Gewerbemüll grundsätzlich enthaltenen „Fehlwürfen“ (zB Batterien, Unkrautvernichtungsmittel oder Rattengift) iVm Feuchtigkeit die Gefahr einer solchen Selbstentzündung besteht, und dass sich diese Gefahr in der Vergangenheit bereits früher einmal (wenn auch mit weniger weitreichenden Folgen als nunmehr) verwirklicht hatte.

 

Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, dass im vorliegenden Fall durch die behördliche Genehmigung des Betriebs einschließlich der Lagerung von Gewerbemüll die faktische Vermutung deren Gefahrlosigkeit bestanden habe, und dass eine Unterlassungsklage praktisch aussichtslos gewesen und zu spät gekommen wäre. Dass die aus dieser Selbstentzündung des – den Gegenstand der Bewilligung und des Geschäftsbetriebs der Beklagten bildenden – gefahrenträchtigen Gewerbemülllagers adäquat resultierenden Folgen jedenfalls ein Fall der analogen Anwendung des § 364a ABGB und diese Immissionen auch im Einzelfall betriebstypisch sind (auch wenn der konkrete Auslöser des Brandes nicht feststellbar war), hält sich im Rahmen der aufgezeigten Rsp und des den Gerichten in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessensspielraums.

 

Der Sachverhalt zu 8 Ob 95/04k ist mit dem vorliegenden nicht zu vergleichen, weil dort die Rauchentwicklung zufolge eines Brandes zu beurteilen war, der von in einem Textilgeschäftslokal verlegten Elektroleitungen und dazugehörigen Leuchtkörpern verursacht wurde, womit es an der Anlageneigenschaft nach § 364a ABGB, aber auch an der Typizität gemangelt hat.

 

Die Beklagte hat selbst vorgebracht, dass der gewöhnliche Betrieb ihrer genehmigten Anlage ua das Entgegennehmen von unbehandeltem gewerblichem Abfall, dessen Zwischenlagerung sowie die Verladung zum Abtransport umfasst, und sie hat hierzu den Genehmigungsbescheid vorgelegt. Die Berücksichtigung des Inhalts dieser Urkunden, deren Echtheit überdies zugestanden wurde, im Rahmen der rechtlichen Beurteilung erforderte nicht die amtswegige Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung.

 

Der Lagerung von Abfällen innewohnende typische Gefahren waren sehr wohl Gegenstand des erstinstanzlichen Klagsvorbringens.