OGH > Zivilrecht
01.04.2019 Zivilrecht

OGH: Linksabbieger – zur Frage der Mithaftung im Fall, dass der Fahrzeuglenker zu einem weiteren Blick zurück zwar nicht verpflichtet ist, ihn aber dennoch – und dann unaufmerksam – macht

Das Beklagtenfahrzeug befand sich beim letztmaligen „3-S-Blick“ des gegnerischen Lenkers noch in der Kolonne und nicht in Überholposition; dem Lenker des Klagsfahrzeugs ist daher schon deshalb kein Mitverschulden anzulasten; auf die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage ist nicht weiter einzugehen, weil sie auf einem unrichtigen Verständnis der relevanten Tatsachengrundlage beruht


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Straßenverkehrsrecht, Linksabbieger, 3-S-Blick, Überholen, Mitverschulden
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1304 ABGB, § 11 StVO, § 12 StVO, § 15 StVO, § 16 StVO, § 3 StVO

 

GZ 2 Ob 50/18v [1], 29.01.2019

 

OGH: Hat der Lenker eines Fahrzeugs seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig angezeigt und sich davon überzeugt, dass niemand zum Überholen angesetzt hat, dann ist er nicht verpflichtet, unmittelbar vor dem Abbiegen nach links noch einmal den nachfolgenden Verkehr zu beobachten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass ein nachfolgender Fahrzeuglenker dieses Manöver wahrnehmen, sich vorschriftsmäßig verhalten und ihn rechts überholen werde. In diesem Falle braucht er auch an Kreuzungen nicht damit zu rechnen, links überholt zu werden. Dieser Grundsatz gilt allerdings nur mit der Einschränkung, dass nicht besondere Gründe den Linksabbieger eine Gefahr erkennen lassen und damit besondere Vorsicht erforderlich machen bzw der Einbiegende damit rechnen muss, dass hinter ihm eine unklare Verkehrslage besteht.

 

Ein solcher weiterer Kontrollblick wurde etwa verlangt, wenn die Einmündung, in die abzubiegen beabsichtigt ist, für nachkommende Verkehrsteilnehmer schwer erkennbar ist, bei einer Grundstücks-, Betriebs- oder Hofzufahrt, bei einer erst aus der Nähe wahrnehmbaren Nebenstraße oder wenn der Lenker zwar blinkte, aber nicht zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet war oder sich nicht einordnen konnte, so lange blinkte, dass die genaue Abbiegestelle unklar wurde, oder während der Annäherung an die Abbiegestelle an der Spitze einer Kolonne fahrend von mehreren Fahrzeugen überholt wurde und vor dem eigentlichen Abbiegevorgang noch kurz stehenblieb. Keiner dieser Fälle ist hier gegeben.

 

Nach den Feststellungen des Erstgerichts hat der Lenker des Klagsfahrzeugs 5,5 Meter vor Erreichen der Kollisionsstelle zum letzten Mal zurückgeblickt, während sich das Beklagtenfahrzeug „zum selben Zeitpunkt“ noch in der Kolonne befand. Die beklagte Partei hat in der Berufung diese Feststellungen (erfolglos) nur hinsichtlich des letztmaligen „3-S-Blicks“ angefochten, nicht aber im Hinblick auf die Position des Beklagtenfahrzeugs in diesem Moment. Dennoch ist das Berufungsgericht schon bei der Wiedergabe der erstinstanzlichen Feststellungen davon ausgegangen, dass das Beklagtenfahrzeug sich zeitgleich bereits in Überholposition befunden „haben musste“.

 

Diese Auslegung des festgestellten Sachverhalts ist jedoch rechtlich nicht haltbar, steht ihr doch die insoweit unbekämpft gebliebene, eindeutige Feststellung des Erstgerichts entgegen, was der Kläger in der Revision zutreffend rügt. Die Feststellungen des Erstgerichts widersprechen auch keineswegs den Gesetzen der Logik und der Erfahrung, weil die für das Fahrmanöver des Beklagtenfahrzeugs zur Verfügung stehende Zeitspanne auch von weiteren – allerdings ungeklärt gebliebenen – Umständen, wie etwa der Geschwindigkeit des Klagsfahrzeugs vor und während des Einbiegevorgangs oder den Tiefenabständen zwischen den Fahrzeugen abhängig ist.

 

Indem es die getroffenen Feststellungen abweichend von ihrem eindeutigen Sinngehalt interpretierte, hat das Berufungsgericht den Sachverhalt unrichtig rechtlich beurteilt.

 

Maßgebend für diese Beurteilung sind allein die bindenden Feststellungen des Erstgerichts:

 

Danach befand sich das Beklagtenfahrzeug beim letztmaligen „3-S-Blick“ des gegnerischen Lenkers noch in der Kolonne und nicht in Überholposition. Dem Lenker des Klagsfahrzeugs ist daher schon deshalb kein Mitverschulden anzulasten. Auf die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage ist nicht weiter einzugehen, weil sie auf einem unrichtigen Verständnis der relevanten Tatsachengrundlage beruht.