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08.04.2019 Zivilrecht

OGH: Zur Frage der Ersatzfähigkeit von Schockschäden naher Angehöriger bei Missbrauchshandlungen an Minderjährigen

Es kann nicht zweifelhaft sein, dass auch die Verletzung des absolut geschützten Persönlichkeitsrechts der geschlechtlichen Selbstbestimmung (s § 1328 ABGB) und insbesondere auch sexueller Missbrauch von Minderjährigen grundsätzlich eine Tathandlung ist, die – idR abhängig von ihrem Schweregrad – bei der unmittelbar betroffenen Person schwere psychische und seelische Verletzungen oder Traumatisierungen herbeiführen kann, wegen des besonderen Unrechtsgehalts (Vorsatztat) und der möglichen Auswirkungen in der Folge aber auch bei nahen Angehörigen Schockschäden und Belastungsreaktionen iSv krankheitswertigen seelischen Schmerzen auslösen kann; nicht anders als bei Körperverletzungshandlungen besteht dagegen kein Grund zur Annahme, dass Missbrauchshandlungen in jedem Fall, dh unabhängig von der jeweiligen Art der Verletzungshandlung, der Schwere der Tat und den konkreten Folgen, Ansprüche naher Angehöriger begründen, weil ihre eigene Beeinträchtigung nur als Reaktion auf eine konkrete Tat und ihre Auswirkungen für das Opfer verstanden werden kann


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Schmerzengeld, Schockschaden, nahe Angehörige, Missbrauchshandlungen an Minderjährigen
Gesetze:

 

§ 1325 ABGB

 

GZ 9 Ob 1/19s [1], 24.01.2019

 

OGH: Nach stRsp gebührt nahen Angehörigen eines Getöteten für den ihnen verursachten „Schockschaden“ mit Krankheitswert Schmerzengeld, weil diese „Dritten“ durch das Erleiden eines Nervenschadens in ihrem absolut geschützten Recht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt und als unmittelbar Geschädigte anzusehen sind. Die Rechtswidrigkeit einer solchen Körperverletzung wird dabei nicht aus dem Schutzzweck der Verhaltensvorschrift, die die Erstverletzung verhindern soll, sondern aus der bei Verletzung absolut geschützter Rechte gebotenen Interessenabwägung abgeleitet. Die Gefahr einer unzumutbaren Ausweitung der Haftung wird dadurch eingegrenzt, dass es eines besonders starken Zurechnungsgrundes bedarf, also die Verletzungshandlung gegenüber dem Angehörigen in hohem Maß geeignet erscheinen muss, einen Schockschaden herbeizuführen.

 

Der Ersatz eines Schockschadens mit Krankheitswert wird über Tötungsdelikte hinaus insbesondere auch bei schwerster Verletzung naher Angehöriger bejaht. Voraussetzung ist aber auch hier, dass die Verletzungshandlung – im Rahmen einer typisierten Betrachtung – in hohem Maße geeignet erschien, einen solchen Schockschaden herbeizuführen. Schwerste Verletzungen sind solche, bei denen die Nachricht auf den nahen Angehörigen typischerweise ähnlich wie eine Todesnachricht wirkt. Die Verletzungen des Opfers müssen im Zeitpunkt der Nachricht von einer solchen Schwere sein, dass entweder akute Lebensgefahr oder die konkrete Gefahr dauernder Pflegebedürftigkeit besteht. Andere schwere Verletzungen, die nicht einem Pflegefall gleichkommen, werden idR nicht als haftungsbegründend anerkannt. Insoweit hält die Rsp an den stets betonten engen Grenzen der Ersatzfähigkeit von Schockschäden fest.

 

Als Tathandlung für den Ersatz krankheitswertiger Schockschäden naher Angehöriger kommen aber nicht nur Tötungsdelikte und Delikte mit schwersten Verletzungsfolgen des Erstgeschädigten in Betracht. Wertungsmäßig vergleichbare massivste Beeinträchtigungen der immateriellen Interessen naher Angehöriger wurden etwa auch bei Vertauschung eines neugeborenen Kindes auf der Geburtenstation anerkannt.

 

Davon ausgehend kann nicht zweifelhaft sein, dass auch die Verletzung des absolut geschützten Persönlichkeitsrechts der geschlechtlichen Selbstbestimmung (s § 1328 ABGB) und insbesondere auch sexueller Missbrauch von Minderjährigen grundsätzlich eine Tathandlung ist, die – idR abhängig von ihrem Schweregrad – bei der unmittelbar betroffenen Person schwere psychische und seelische Verletzungen oder Traumatisierungen herbeiführen kann, wegen des besonderen Unrechtsgehalts (Vorsatztat) und der möglichen Auswirkungen in der Folge aber auch bei nahen Angehörigen Schockschäden und Belastungsreaktionen iSv krankheitswertigen seelischen Schmerzen auslösen kann. Nicht anders als bei Körperverletzungshandlungen besteht dagegen kein Grund zur Annahme, dass Missbrauchshandlungen in jedem Fall, dh unabhängig von der jeweiligen Art der Verletzungshandlung, der Schwere der Tat und den konkreten Folgen, Ansprüche naher Angehöriger begründen, weil ihre eigene Beeinträchtigung nur als Reaktion auf eine konkrete Tat und ihre Auswirkungen für das Opfer verstanden werden kann.

 

Die Frage, ob die physische oder psychische Beeinträchtigung des Opfers ein solches Ausmaß erreicht, dass nach den diesbezüglichen Kriterien Schadenersatz für die dadurch ausgelöste seelische Gesundheitsschädigung eines nahen Angehörigen zuerkannt werden kann, entzieht sich aber einer allgemeinen Aussage des OGH. Entscheidend sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalls.

 

Hier gingen die Vorinstanzen davon aus, dass die von der Rsp in Bezug auf die Verletzungen des Opfers geforderte hohe Erheblichkeitsschwelle für Schmerzengeldansprüche Dritter noch nicht erreicht wurde, wofür das Berufungsgericht auch auf die reifere, eigenständigere und selbstbewusstere Reaktion der neuneinhalb Jahre alten Tochter, als es ihrem Alter entspräche, verwies (Abwehr des Beklagten, der ihr bei zwei Vorfällen in die Unterhose gegriffen und sie betastet hatte; umgehendes Verlassen des Tatorts; sofortige Information der Mutter). Ein etwa mit dem Sachverhalt der E 13 Os 139/17s (Vollzug des Beischlafs an einer Zweijährigen) vergleichbarer Fall liegt nicht vor. Auch die weiteren von der Klägerin zitierten Entscheidungen legen kein anderes Ergebnis nahe (2 Ob 79/00g: psychische Erkrankung infolge Unfalltod des Sohnes; 9 Ob 83/09k: Schockschaden infolge ärztlichen Kunstfehlers mit Todesfolge; 2 Ob 163/06v: schwerste Verletzungen der Tochter mit Dauerfolgen; 2 Ob 136/11f: familiäre Belastungssituation bei schweren Verletzungen der Ehefrau ohne akute Lebensgefahr nicht ausreichend; 2 Ob 189/16g: schwerste Verletzungen der Tochter; mangels grober Fahrlässigkeit kein Trauerschmerzengeld). Ohne die erlittenen psychischen und seelischen Belastungen der Tochter der Klägerin zu verkennen, haben die Vorinstanzen bei ihrer Entscheidung, dass hier noch keine Beeinträchtigungen vom genannten Schweregrad vorliegen, damit den von der Rsp gezeichneten Beurteilungsrahmen nicht verlassen.

 

Sekundäre Feststellungsmängel liegen nicht vor. Die von der Klägerin begehrten Feststellungen bieten keine ausreichenden Anhaltspunkte für solche Tatfolgen, die die dargelegte, an schwersten Verletzungen ausgerichtete Erheblichkeitsschwelle für Schmerzengeldansprüche naher Angehöriger übersteigen würden. Für eine konkrete Gefahr einer dauernden oder zumindest längerfristigen Pflege- oder Behandlungsbedürftigkeit der Tochter wurde kein hinreichendes Vorbringen erstattet. Der Verweis auf Urkunden ist nicht ausreichend. Auf den Gesundheitszustand der Klägerin, zu dem sie ebenso weitere Feststellungen vermisst, kommt es danach nicht entscheidend an.