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07.07.2020 Zivilrecht

OGH: Zum negativen Publizitätsprinzip

Ist dem außerbücherlich Berechtigten der Nachweis einer unklaren Situation, die einen Anlass für Nachforschungen darstellt, gelungen, so trifft die Beweislast für die Durchführung der Recherchen und ihr Ergebnis den, der im Vertrauen auf den Grundbuchstand lastenfrei erworben haben will


Schlagworte: Grundbuchsrecht, Vertrauen auf den Buchstand, negatives Publizitätsprinzip, offenkundige Dienstbarkeiten, Nachforschungspflicht, Fahrlässigkeit, Redlichkeit, guter Glaube
Gesetze:

 

§ 1500 ABGB, § 328 ABGB

 

GZ 9 Ob 11/20p [1], 16.04.2020

 

OGH: Ein aus der Ersitzung oder Verjährung erworbenes Recht kann demjenigen, der im Vertrauen auf die öffentlichen Bücher noch vor der Einverleibung desselben eine Sache oder ein Recht an sich gebracht hat, nicht zum Nachteil gereichen (§ 1500 ABGB). Der Grundsatz des Vertrauens auf das öffentliche Buch gilt aber nicht uneingeschränkt. Die Berufung auf die Gutgläubigkeit ist nur möglich, wenn keine Umstände vorliegen, die bei gehöriger Aufmerksamkeit den wahren, vom Grundbuchstand abweichenden Sachverhalt erkennen lassen. Dann ist Gutgläubigkeit bei Offenkundigkeit der Dienstbarkeit zu verneinen.

 

Dies gilt nicht nur für - regelmäßig durch Ersitzung - bereits endgültig erworbene dingliche Rechte, sondern auch für vertraglich eingeräumte Dienstbarkeiten, sofern diese nach dem Vertragswillen der Partner des Bestellungsvertrags dinglich wirken sollen. Die Offenkundigkeit einer Dienstbarkeit durchbricht den Eintragungsgrundsatz, wenn der Berechtigte über einen Erwerbstitel verfügt oder das Recht ersessen hat. Für den Begriff der offenkundigen Dienstbarkeit ist es wesentlich, ob man vom dienenden Grundstück aus bei einiger Aufmerksamkeit Einrichtungen oder Vorgänge wahrnehmen kann, die das Bestehen einer Dienstbarkeit vermuten lassen. Soweit sich danach aus den besonderen Umständen Bedenken gegen die Vollständigkeit des Grundbuchstands ergeben, müssen auch Nachforschungen vorgenommen werden. Solche sind vom Ersteher nur bei Vorliegen besonderer, nach den Umständen des Einzelfalls bezüglich ihrer Eignung, Zweifel in dieser Hinsicht zu hegen, zu beurteilender Umstände zu verlangen. Der Umfang der Sorgfaltspflicht bestimmt sich nach der Verkehrsübung. Es genügt leichte Fahrlässigkeit.

 

In Übereinstimmung mit der Redlichkeitsvermutung des § 328 ABGB liegt die Beweislast für die Schlechtgläubigkeit des Erwerbers bei demjenigen, der außerbücherlich erworben hat, insbesondere daher für Wissen oder Wissenmüssen von der vom Grundbuchstand abweichenden Rechtslage oder für die Offenkundigkeit einer Dienstbarkeit. Ist dem außerbücherlich Berechtigten allerdings der Nachweis einer unklaren Situation, die einen Anlass für Nachforschungen darstellt, gelungen, so trifft die Beweislast für die Durchführung der Recherchen und ihr Ergebnis den, der im Vertrauen auf den Grundbuchstand erworben haben will.