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03.08.2011 Zivilrecht

OGH: Verweigerung von Bluttransfusionen durch Zeugen Jehovas - Verletzung der Schadensminderungspflicht gem § 1304 ABGB bei Verweigerung von medizinisch indizierten Maßnahmen aus religiösen Gründen?

Die Freiheit der (Gewissens-)Entscheidung bedeutet nicht, dass derjenige, der eine für ihn objektiv ungünstige, gegen die Obliegenheit zur Schadensminderung verstoßende Gewissensentscheidung trifft, die aus der objektiven Ungünstigkeit der Entscheidung folgenden Nachteile nicht zu tragen hat


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Schadensminderungspflicht, Verweigerung von medizinisch indizierten Maßnahmen aus religiösen Gründen, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Recht auf Eigentum
Gesetze:

§ 1304 ABGB, Art 14 StGG, Art 9 EMRK, Art 5 StGG

GZ 2 Ob 219/10k [1], 22.06.2011

 

Am 20. 6. 2005 ereignete sich in Wien ein Verkehrsunfall, bei dem die vormalige Ehefrau des Klägers als Fußgängerin durch einen Sattelzug erfasst und niedergestoßen wurde. Sie erlitt ua ein Überrolltrauma mit traumatischer Oberschenkelamputation. Da sie als Zeugin Jehovas eine entsprechende Willenserklärung abgegeben hatte, wurden ihr keine Blutkonserven zugeführt. Sie starb am folgenden Tag.

 

OGH: Das OLG Innsbruck hat in der Entscheidung vom 16. 8. 1994, ZVR 1996/48, wo die Verweigerung von Blutkonserven zu einer Verlängerung des Heilungsprozesses führte, eine Schadensminderungspflichtverletzung verneint. Im Lichte des Art 14 Abs 1 StGG und Art 9 EMRK würde es einer verfassungskonformen Interpretation des § 1304 ABGB zuwiderlaufen, wenn man aufgrund einer ernsthaft geäußerten und zu Tage tretenden Glaubens- und Gewissensäußerung jemandem aus diesem Grund allein eine Minderung seines Schadenersatzes zumessen würde. Das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit sei im Ergebnis höher einzustufen als das Recht auf Eigentum, das freilich (bezogen auf die Vermögenssphäre des beklagten Schädigers) durch die vorgenommene Auslegung beeinträchtigt werde.

 

Der erkennende Senat folgt der Auffassung des OLG Innsbruck nicht.

 

Nach Ansicht des Senats war die beim Unfall Verletzte nicht in ihrer Religions-, Glaubens-, oder Gewissensfreiheit beeinträchtigt. Als eigenberechtigter Person stand es ihr frei, jegliche medizinische Behandlung, somit auch eine Bluttransfusion, zu verweigern. Ihre Weigerung war rechtmäßig. Die Verletzung der Schadensminderungspflicht setzt nämlich kein rechtswidriges Verhalten des Geschädigten voraus, sondern begründet lediglich eine Obliegenheitsverletzung.

 

Dass die Entscheidung, medizinisch indizierte Bluttransfusionen generell zu verweigern, objektiv ungünstig ist, zeigt auch die Rsp, wonach die Weigerung von Eltern, der notwendigen Bluttransfusion bei ihrem Kind zuzustimmen, das Kindeswohl verletzt.

 

Die Freiheit der (Gewissens-)Entscheidung bedeutet aber nicht, dass derjenige, der eine für ihn objektiv ungünstige, gegen die Obliegenheit zur Schadensminderung verstoßende Gewissensentscheidung trifft, die aus der objektiven Ungünstigkeit der Entscheidung folgenden Nachteile nicht zu tragen hat. Diese Nachteile sind im vorliegenden Fall möglicherweise der Tod der Verletzten, aber auch, dass im Fall, dass bei medizinisch indizierter und durchgeführter Bluttransfusion die Verletzte überlebt hätte, der Schädiger für die nachteiligen Folgen dieser objektiv ungünstigen Gewissensentscheidung nicht einzustehen hat. Ansonsten wäre, wie schon das OLG Innsbruck erkannt hat, das ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht des Schädigers auf Eigentum (Art 5 StGG) betroffen.

 

Die gegenteilige Auffassung erschiene in anderer Weise grundrechtlich bedenklich: Nach den Feststellungen ist die Entscheidung der beim Unfall Verletzten, Bluttransfusionen zu verweigern, durch ihre Mitgliedschaft bei der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bedingt. Wollte man nun Mitgliedern der Zeugen Jehovas im Gegensatz zu anderen Menschen zugestehen, dass die Verweigerung zu medizinisch indizierten, schadensmindernden Bluttransfusionen nicht als anspruchsvernichtende Verletzung der Schadensminderungspflicht zugerechnet würde, wäre dies eine Privilegierung der Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Diese Sichtweise stünde im Verdacht, gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen, wonach auch Vorrechte des Bekenntnisses ausgeschlossen sind (Art 7 B-VG). Weiters wäre fraglich, ob dann noch der Genuss der bürgerlichen Rechte von dem Religionsbekenntnis unabhängig wäre, wie dies Art 14 Abs 2 StGG vorschreibt.