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14.09.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Verhängung von Disziplinarmaßnahmen – zur Frage, ob Disziplinarordnungen - mangels Zustimmung des Betriebsrats gem § 96 ArbVG - als „freie Betriebsvereinbarungen“ anzusehen sind und auch Teil des Einzelarbeitsvertrags werden können

In Betrieben, in denen Betriebsvereinbarungen geschlossen werden können, scheidet eine einzelvertragliche Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung ebenso aus wie ein Unterlaufen der Mitbestimmung der Belegschaft dadurch, dass eine der Sache nach generelle Regelung im Wege von konkreten Einzelmaßnahmen getroffen wird


Schlagworte: Arbeitsverfassungsrecht, (freie) Betriebsvereinbarung, Einzelvertrag, betriebliche Disziplinarordnung, Zustimmung des Betriebsrats, Verhängung von Disziplinarmaßnahmen
Gesetze:

§ 96 ArbVG, § 102 ArbVG

GZ 9 ObA 13/11v [1], 27.07.2011

 

OGH: Gem § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG bedarf die Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung der Zustimmung des Betriebsrats.

 

Gem § 102 Satz 2 ArbVG ist die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall nur zulässig, wenn sie in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung (§ 96 Abs 1 Z 1 ArbVG) vorgesehen ist; sie bedarf, sofern darüber nicht eine mit Zustimmung des Betriebsrats eingerichtete Stelle entscheidet, der Zustimmung des Betriebsrats.

 

§ 102 ArbVG stellt eine zwingende Vorschrift dar, die das Mitwirkungsrecht des Betriebsrats bei der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme sichern soll. Gibt es keine Disziplinarordnung in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung, ist eine konkrete Disziplinarmaßnahme in der vorhandenen Disziplinarordnung nicht enthalten, wird das vorgesehene Disziplinarverfahren nicht oder nicht ordnungsgemäß abgeführt oder wird im Disziplinarverfahren keine Zustimmung zur Verhängung erteilt, so darf der Arbeitgeber eine Disziplinarmaßnahme nicht durchführen. Verhängt der Arbeitgeber trotz Fehlens der formalen Voraussetzungen eine Disziplinarmaßnahme, so ist diese rechtsunwirksam.

 

Es wurde bereits ausgesprochen, dass in Betrieben, in denen Betriebsvereinbarungen geschlossen werden können, eine einzelvertragliche Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung ebenso ausscheidet wie ein Unterlaufen der Mitbestimmung der Belegschaft dadurch, dass eine der Sache nach generelle Regelung im Wege von konkreten Einzelmaßnahmen getroffen wird.

 

Der Ansicht des Berufungsgerichts, dass die Disziplinarordnung 2004 - mangels Zustimmung des Betriebsrats - als freie Betriebsvereinbarung qualifiziert werden könne, die aufgrund der Unterwerfung des Klägers unter diese Disziplinarordnung durch Teilnahme an der Disziplinarverhandlung und Bezahlung der Disziplinarstrafe Inhalt seines Arbeitsvertrags geworden sei, steht die genannte Rsp entgegen, dass in Betrieben, in denen Betriebsvereinbarungen geschlossen werden können, eine einzelvertragliche Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung ebenso ausscheidet wie ein Unterlaufen der Mitbestimmung der Belegschaft dadurch, dass eine der Sache nach generelle Regelung im Wege von konkreten Einzelmaßnahmen getroffen wird. Ungeachtet dessen könnte dem Kläger entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nicht zugesonnen werden, dass er durch Teilnahme an der Disziplinarverhandlung und Bezahlung der Geldstrafen konkludent mit der Geltung der Disziplinarordnung 2004 für sein Arbeitsverhältnis einverstanden war, ist doch gem § 863 ABGB an schlüssige Willenserklärungen ein strenger Maßstab anzulegen und darf für den Empfänger kein vernünftiger Grund für Zweifel an einem Rechtsfolgewillen des Erklärenden in eine bestimmte Richtung bestehen. Worin hier ein entsprechendes Interesse des Klägers gelegen wäre, der ohne Wirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 nach dieser nicht bestraft werden könnte, ist nicht ersichtlich.

 

Die Disziplinarordnung 2004 scheidet daher sowohl auf kollektiv- als auch auf einzelvertraglicher Basis als Grundlage für eine Bestrafung des Klägers aus.