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20.09.2011 Zivilrecht

OGH: Schmerzengeldbemessung bei Verlust des Sehvermögens von Geburt an

In den letzten Jahrzehnten ist zu beobachten, dass die Rsp bei der Bewertung von Dauerfolgen die Komponente des psychischen Leids stärker als früher in den Vordergrund rückt, sodass eine pauschale Aufwertung von Schmerzengeldzusprüchen parallel zur Entwicklung des Verbraucherpreisindex den heute anzuwendenden Relationen nicht gänzlich gerecht wird, auch wenn damit Anhaltspunkte für eine Objektivierung gewonnen werden können


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Schmerzengeld, Bemessung, Dauerfolgen, Verlust des Sehvermögens, Verbraucherpreisindex, psychisches Leid, Verunstaltungsentschädigung
Gesetze:

§ 1325 ABGB, § 1326 ABGB, §§ 1295 ff ABGB

GZ 3 Ob 128/11m [1], 24.08.2011

 

Der - als Folge eines ärztlichen Kunstfehlers erblindete - Kläger wurde am 14. August 2005 entbunden.

 

OGH: Das Schmerzengeld stellt grundsätzlich eine Globalabfindung für alle eingetretenen und für alle nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden künftigen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen durch die Unfallfolgen dar. In aller Regel ist das Schmerzengeld daher als einmaliger Globalbetrag zu bemessen. Im vorliegenden Fall kann das mit der Erblindung verbundene Ungemach des Klägers mit hinreichender Sicherheit bereits überblickt werden.

 

Nach der Rsp des OGH ist die Beurteilung der Höhe des angemessenen Schmerzengeldes von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Zur Vermeidung einer völligen Ungleichmäßigkeit der Rsp ist aber auch ein objektiver Maßstab anzulegen, indem der von der Judikatur ganz allgemein gezogene Rahmen für die Bemessung im Einzelfall nicht gesprengt wird.

 

Der bisher höchste Zuspruch in Österreich - zu 2 Ob 237/01v - betrug 3.000.000 ATS = 218.018,50 EUR. Da für die Höhe des Schmerzengeldes der Geldwert zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung in erster Instanz maßgeblich ist, muss für eine Vergleichbarkeit früherer Schmerzengeldzusprüche auch die inflationsbedingte „Verdünnung“ des Geldwerts berücksichtigt werden. In dem der Entscheidung 2 Ob 237/01v zugrunde liegenden Fall wurde das erstinstanzliche Urteil am 23. Jänner 2001 gefällt (der Schluss der Verhandlung wird in zeitlicher Nähe zu diesem Datum gelegen sein). Im vorliegenden Fall wurde die Verhandlung in erster Instanz am 23. November 2010 gefällt. Eine Aufwertung des Schmerzengeldzuspruchs rein nach dem VPI 2000 würde eine rechnerische Anhebung von etwa 22 % auf etwa 266.000 EUR ergeben. Der Fall war durch schwerste Dauerfolgen eines zum Unfallszeitpunkt 21-jährigen Mannes gekennzeichnet (hohe Querschnittsymptomatik mit Lähmung des Atmungsnervs; dadurch bedingte künstliche Beatmung bis an das Lebensende; nur geringe Bewegungsmöglichkeit im Bereich der rechten Fingergelenke und des rechten Ellenbogengelenks; Doppelbilder aufgrund einer Augenmuskellähmung).

 

Zweifellos liegen auch beim Kläger gravierende Dauerfolgen, und zwar praktisch von Lebensbeginn an vor; sie erreichen jedoch nicht die Schwere derjenigen, die der Entscheidung 2 Ob 237/01v zugrunde liegen.

 

Der Verlust des Augenlichts bildete den Gegenstand zweier schon etwas älterer Entscheidungen des OGH.

 

In der Entscheidung 2 Ob 59/84 billigte der OGH einen Schmerzengeldzuspruch von umgerechnet etwa 58.000 EUR an eine 17-Jährige, die praktisch erblindet war und den Geruchs- und Geschmackssinn verloren hatte. Das Ersturteil wurde am 30. Dezember 1983 gefällt. Eine Aufwertung auf November 2010 nach dem VPI 1976 (Wert Dezember 1983: 142,6; Wert November 2010: 260,3) würde zu einem Betrag von ca 106.000 EUR führen.

 

Zu 2 Ob 14/86 erachtete der OGH einen Zuspruch von umgerechnet etwa 51.000 EUR an einen 24-Jährigen, der trotz eines verbliebenen Sehvermögens am rechten Auge von 10 % als praktisch blind anzusehen war, als angemessen. Das Ersturteil wurde am 17. Juli 1985 gefällt. Eine Aufwertung auf November 2010 nach dem VPI 1976 (Wert Juli 1985: 153,1; Wert November 2010: 260,3) würde zu einem Betrag von ca 87.000 EUR führen.

 

In den letzten Jahrzehnten ist zu beobachten, dass die Rsp bei der Bewertung von Dauerfolgen die Komponente des psychischen Leids stärker als früher in den Vordergrund rückt, sodass eine pauschale Aufwertung von Schmerzengeldzusprüchen parallel zur Entwicklung des Verbraucherpreisindex den heute anzuwendenden Relationen nicht gänzlich gerecht wird, auch wenn damit Anhaltspunkte für eine Objektivierung gewonnen werden können.

 

Auch wenn in der Entscheidung 2 Ob 59/84 zusätzlich der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns auszugleichen war, stehen einem Zuspruch von nur 100.000 EUR im konkreten Fall die besonderen Umstände des Einzelfalls entgegen. Der Kläger hat den Verlust des Sehvermögens praktisch von Geburt an zu erleiden; schon allein damit gehen gravierende Nachteile in der persönlichen Entwicklung einher, die in der Folge auch zu beträchtlichen psychischen Beeinträchtigungen der Lebensperspektiven führen, die über den Umstand der Blindheit als körperliche Beeinträchtigung weit hinausgehen.

 

Unter Berücksichtigung dieser speziellen Umstände und unter Beachtung der Relation zum bisherigen Höchstzuspruch von Schmerzengeld erscheint ein Zuspruch iHv 150.000 EUR angemessen.

 

In Bezug auf die Verunstaltungsentschädigung erscheint der Zuspruch von 15.000 EUR unter Berücksichtigung der vorliegenden Beeinträchtigungen des Klägers in seinem Fortkommen sowie unter Bedachtnahme auf die bisherigen Zusprüche (siehe die Auflistung bei Harrer in Schwimann3 § 1326 ABGB Rz 27) angemessen.