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18.10.2011 Zivilrecht

OGH: (Nachfolgende) Belehrungspflicht des Versicherers / Agenten – zum Umfang nebenvertraglicher Informations- und Aufklärungspflichten während eines laufenden Haftpflichtverhältnisses

Eine nebenvertragliche, dem Vertragsabschluss nachfolgende Beratungs- und Warnpflicht des beklagten (Haftpflicht-)Versicherers ist zumindest dann zu bejahen, wenn der Fall durch folgende Umstände gekennzeichnet ist: Eine neue Rsp, die dem Versicherer (dem auch der Wunsch des Versicherten nach umfassendem Versicherungsschutz bekannt war) wohl nicht entgangen sein kann, führt zu existenzbedrohenden Berufsrisiken einer bestimmten, überschaubaren Gruppe von nach denselben Bedingungen Versicherten (hier: Gynäkologen); geht es um die Verfehlung eines für eine solche Gruppe von Versicherungsnehmern typischen Deckungsbedürfnisses (also die Absicherung ihrer besonderen Berufsrisiken), kann daher schon die (weitere) Kenntnis des Versicherers, dass der Versicherungsnehmer dieser Gruppe angehört und umfassenden Versicherungsschutz anstrebt, eine solche Verpflichtung auslösen


Schlagworte: Versicherungsrecht, Schadenersatzrecht, Haftpflichtversicherung, nebenvertragliche dem Vertragsabschluss nachfolgende Beratungs- und Warnpflicht, Versicherungsagent, Grundsatz von Treu und Glauben
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 43 VersVG

GZ 7 Ob 72/11f, 31.08.2011

 

OGH: Der Versicherungsagent muss nicht prüfen, ob die Versicherungsbedingungen das erkennbare Versicherungsbedürfnis voll abdecken; der Versicherungsnehmer muss vielmehr die von ihm für aufklärungsbedürftig erachteten Punkte bezeichnen oder erkennbar eine irrige Vorstellung haben. Doch muss der Agent Fehlvorstellungen, die der Versicherungsnehmer über den Deckungsumfang äußert, richtig stellen; es besteht daher eine Aufklärungspflicht des Versicherers über einen Risikoausschluss, wenn erkennbar ist, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsschutz gerade für ein ausgeschlossenes Risiko anstrebt. Umso eher liegt ein pflichtwidriges Verhalten vor, wenn der Versicherungsnehmer in seinen irrigen Vorstellungen über den Inhalt des Versicherungsprodukts noch bestärkt wird, ebenso, wenn dem Versicherungsagenten aus den Äußerungen des Versicherungsinteressenten klar erkennbar ist, dass dieser über einen für ihn ganz wesentlichen Vertragspunkt, wie etwa über den angestrebten ehesten Haftungsbeginn, eine irrige Vorstellung hat. Ebenso stellt es einen Verstoß gegen die vorvertraglichen Sorgfaltspflichten dar, wenn die unrichtige Ansicht des Antragstellers durch eine unzutreffende Belehrung des Versicherungsvertreters hervorgerufen, jedenfalls aber bekräftigt wurde. Ein Versicherer ist zu einer sachkundigen Beratung und Aufklärung dann verpflichtet, wenn der andere Vertragsteil nach der im Verkehr hA redlicherweise dies erwarten darf. Kein Versicherungsnehmer kann aber erwarten, dass jedes denkbare Risiko in den Schutzbereich einer Versicherung fällt. Die Belehrungspflicht des Versicherers oder seines Agenten darf nicht überspannt werden und erstreckt sich nicht auf alle möglicherweise eintretende Fälle. Besteht keine (vorangehende) Prüfpflicht, ist auch eine (daran anknüpfende) Informationspflicht zu verneinen. Dann bleibt aber nur der vom Berufungsgericht angewendete Rückgriff auf das dem Versicherungsrecht innewohnende Prinzip von Treu und Glauben, um eine Warnpflicht des Versicherungsagenten annehmen zu können. Die Bejahung der Verletzung der Warnpflicht des Versicherungsagenten würde ua voraussetzen, dass dem beklagten Versicherer das Wissen des für ihn auftretenden Versicherungsagenten zuzurechnen ist.

 

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall berücksichtigt, wobei es ua von den unstrittigen Feststellungen ausging, dass

 

- die Klägerin (Fachärztin für Gynäkologie) dem Außendienstmitarbeiter der Beklagten erklärte, sie benötige deshalb „vollumfänglichen“ (also bestmöglichen) Versicherungsschutz für ihre Arztpraxis, weil in ihrem Fall gleichzeitig zwei Menschenleben, nämlich die Schwangere und das Kind betroffen seien;

 

- die Klägerin - wäre sie vom Mitarbeiter der Beklagten darüber aufgeklärt worden, dass sie hinsichtlich der „wrongful-birth“-Problematik in der Haftpflichtversicherung nur mit 100.000 ATS versichert sei -, für eine entsprechende Eindeckung dieses Schadens bis zum Eintritt des Versicherungsfalls (Ultraschalluntersuchungen in der Zeit vom 28. 11. 2005 bis 18. 4. 2006) Vorsorge getroffen hätte; etwa durch Abschluss mit einem anderen Versicherer, bei dem diese Schäden in entsprechendem Umfang mitversichert worden wären;

 

- die Klägerin den Versicherungsvertrag in der für den Mitarbeiter der Beklagten erkennbaren Meinung abschloss, sie erlange einen „umfänglichen“ und mit 20.000.000 ATS auch ausreichenden Versicherungsschutz.

 

Angesichts des Umstands, dass dem Versicherungsagenten der Beklagten der Wunsch der Klägerin nach umfassendem Versicherungsschutz (auch für reine Vermögensschäden) bekannt war, ist daher eine Verletzung der Aufklärungs- und Warnpflicht für die Zeit nach der ersten österreichischen Entscheidung zur „wrongful-birth“-Problematik (1 Ob 91/99k) zu bejahen. Welche weiteren Kontakte es zwischen der Klägerin und dem Agenten der Beklagten gab, bedarf dabei jedoch - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - keiner weiteren Prüfung, weil hier jedenfalls eine besondere nebenvertragliche, dem Vertragsabschluss nachfolgende Beratungs- und Warnpflicht des Versicherers bestand.

 

Mit der in dieser Beurteilung zum Ausdruck kommenden starken Betonung von Treu und Glauben wird nämlich auch der Tatsache Rechnung getragen, dass jeder der beiden Vertragspartner eines Versicherungsvertrags deshalb in besonderem Maß auf die Unterstützung durch den anderen angewiesen ist, weil er ihm in der einen oder anderen Weise unterlegen ist: Der Versicherungsnehmer verfügt etwa allein über die Kenntnis für den Vertragsabschluss und die Schadensabwicklung wesentlicher Umstände; der Versicherer ist dem Versicherungsnehmer überlegen durch die Beherrschung der Versicherungstechnik, seine Geschäftskunde und seine umfangreichen Erfahrungen, wegen der Sachverständigen aller Gebiete, deren er sich bedienen kann.

 

Davon ausgehend ist eine nebenvertragliche, dem Vertragsabschluss nachfolgende Beratungs- und Warnpflicht des beklagten (Haftpflicht-)Versicherers zumindest dann zu bejahen, wenn der Fall durch folgende Umstände gekennzeichnet ist:

 

Eine neue Rsp, die dem Versicherer (dem auch der Wunsch des Versicherten nach umfassendem Versicherungsschutz bekannt war) wohl nicht entgangen sein kann, führt zu existenzbedrohenden Berufsrisiken einer bestimmten, überschaubaren Gruppe von nach denselben Bedingungen Versicherten (hier: Gynäkologen). Geht es um die Verfehlung eines für eine solche Gruppe von Versicherungsnehmern typischen Deckungsbedürfnisses (also die Absicherung ihrer besonderen Berufsrisiken), kann daher schon die (weitere) Kenntnis des Versicherers, dass der Versicherungsnehmer dieser Gruppe angehört und umfassenden Versicherungsschutz anstrebt, eine solche Verpflichtung auslösen.