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27.12.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Einzelvertragliche Anrechnung von Vordienstzeiten – zur Frage, wie § 3 Abs 3 Satz 2 IESG iZm einer Kündigungsentschädigung auszulegen ist

Für die Berechnung des nach § 3 Abs 3 2. Satz IESG gesicherten Anspruchs auf Kündigungsentschädigung ist der stets einzelfallbezogene Einfluss der Kündigungstermine auf die individuelle Dauer des Entschädigungsanspruchs auszublenden; bei der Prüfung, ob Vordienstzeiten bereits bei der Berechnung früherer Ansprüche auf Kündigungsentschädigung berücksichtigt wurden, kommt es nur auf die konkret rechtlich erforderlichen Mindestzeiten an


Schlagworte: Insolvenzentgelt, Ausmaß, einzelvertragliche Anrechnung von Vordienstzeiten, Kündigungsentschädigung, Kündigungstermine, Mindestzeiten
Gesetze:

§ 3 IESG

GZ 8 ObS 15/11f [1], 22.11.2011

 

Der Kläger war knapp hintereinander bei zwei verschiedenen Dienstgebern jeweils als Angestellter beschäftigt. Beide Arbeitgeber wurden insolvent, die Dienstverhältnisse endeten jeweils durch vorzeitigen Austritt des Klägers nach § 25 KO.

 

Das erste Dienstverhältnis hatte vierzehn Jahre und acht Monate gedauert; aufgrund des berechtigten Austritts wurde dem Kläger von der Beklagten für den Zeitraum vom 1. 5. 2008 bis 30. 9. 2008 Insolvenzentgelt für Kündigungsentschädigung zuerkannt.

 

Die anschließende Beschäftigung beim zweiten Dienstgeber, bei dem der Kläger inhaltlich dieselbe Tätigkeit wie zuvor ausführte, dauerte ein Jahr und zehn Monate. Am 30. 7. 2010 wurde auch über das Vermögen dieses Dienstgebers das Insolvenzverfahren eröffnet. Nach dem berechtigten Austritt des Klägers am 9. 8. 2010 anerkannte die Beklagte mit Teilbescheid (ua) einen Anspruch auf Insolvenzentgelt für Kündigungsentschädigung und anteilige Urlaubsersatzleistung bis 30. 9. 2010.

 

Die Klage richtet sich gegen den weiteren Teilbescheid der Beklagten, mit dem ein auf Kündigungsentschädigung bis 31. 12. 2010 gerichtetes Mehrbegehren abgelehnt wurde. Der Kläger habe mit dem zweiten Dienstgeber die Anrechnung der Vordienstzeiten aus dem ersten Dienstverhältnis vereinbart. Da für die Berechnung der Kündigungsfrist aus dem ersten Dienstverhältnis im Ergebnis nur fünf Jahre wirksam herangezogen worden seien, hätten die restlichen neun Jahre und acht Monate im zweiten Dienstverhältnis auch unter Bedachtnahme auf § 3 Abs 3 Satz 2 IESG angerechnet werden müssen. Die von der Entgeltsicherung umfasste Kündigungsfrist betrage daher richtig drei Monate.

 

Die Beklagte wandte ein, die Vordienstzeiten des Klägers seien bereits anlässlich der Beendigung des ersten Dienstverhältnisses zur Gänze berücksichtigt worden. Aufgrund der Lage des einzuhaltenden Kündigungstermins habe der Kläger damals insgesamt Kündigungsentschädigung für fünf Monate erhalten. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung von Kündigungstermin und -fristen ergebe sich, dass der Kläger auch im Fall einer abgelaufenen Dienstzeit von mehr als 15 Jahren aus dem ersten Dienstverhältnis keinen höheren Anspruch erworben hätte. Die neuerliche Berücksichtigung dieser Vordienstzeiten würde daher zu einer doppelten Leistung für idente Zeiträume führen.

 

OGH: Tatsächlich geleistete Beschäftigungszeiten, die auch nicht bei einem früheren Beendigungsanspruch berücksichtigt wurden, sind bei entsprechender vertraglicher Vordienstzeitenanrechnung iSd § 3 Abs 3 2. Satz IESG für die Bemessung der Kündigungsentschädigung heranzuziehen. Zur Vermeidung von Manipulationen müssen die einzelvertraglich angerechneten Vordienstzeiten tatsächlich zurückgelegt worden sein; sie dürfen ferner zur Vermeidung von Doppelanrechnungen nicht bereits bei früheren Beendigungsansprüchen berücksichtigt worden sein, um Doppelleistungen für idente Zeiträume hintanzuhalten.

 

Bereits der Entscheidung 8 ObS 25/05t lag ein dem vorliegenden Fall vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Auch der dortige Kläger hatte zwei hintereinander jeweils wegen Insolvenz des Arbeitgebers beendete Dienstverhältnisse absolviert, allerdings konnte er sich auf eine kollektivvertraglich geregelte Anrechnung von Vordienstzeiten berufen. Der erkennende Senat kam zu dem Ergebnis, dass der auf Individualzusagen bezogene § 3 Abs 3 Satz 2 IESG in diesem Fall nicht anwendbar war, prüfte aber im zweiten Begründungsschritt auch einen allfälligen Verstoß gegen das allgemeine Prinzip der verpönten Doppelleistung für idente Zeiträume. Ein solcher Verstoß sei nicht zu erkennen, wenn dem zweiten Dienstverhältnis nur jene Zeiträume aus dem ersten hinzugeschlagen würden, die für die Berechnung der ersten Kündigungsfrist rechtlich nicht notwendig waren.

 

Die gleiche Linie vertritt der erkennende Senat auch zur Frage der Sicherung einer gesetzlichen Abfertigung bei Anrechnung von schon früher abgefertigten Vordienstzeiten. Auch dabei sind nur jene Vordienstzeiten als „bereits berücksichtigt“ für die Berechnung des neuen Abfertigungsanspruchs auszuscheiden, die für den früheren Abfertigungsanspruch rechtlich notwendig waren. Der Erwerb eines neuerlichen Abfertigungsanspruchs wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Arbeitnehmer bereits im ersten Dienstverhältnis eine Abfertigung im gesetzlichen Höchstausmaß erhalten hat, weil es den Arbeitsvertragsparteien unbenommen bleibt, mehrere Dienstverhältnisse hintereinander zu begründen.

 

Die Revision der beklagten Partei stellt diese Beurteilung, soweit sie Abfertigungsansprüche betrifft, nicht in Frage, meint aber, im Fall eines Anspruchs auf Kündigungsentschädigung seien nicht nur die gesetzlichen Fristen maßgeblich, sondern auch die einzuhaltenden Kündigungstermine. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts führe ansonsten zu einer unsachlichen Benachteiligung von Arbeitnehmern mit längeren Beschäftigungszeiten. Obwohl solche Arbeitnehmer längere gesetzliche Mindestkündigungsfristen hätten, würden sie uU die gesamte Kündigungsfrist bis zum nächsten Kündigungstermin konsumieren und könnten dadurch keine Restzeiten für die Anrechnung im nächsten Dienstverhältnis erwerben.

 

Diesen Ausführungen ist nicht zu folgen. Richtig ist, dass der Kläger nach Ende des ersten Dienstverhältnisses aufgrund der Lage des Kündigungstermins insgesamt eine Kündigungsentschädigung für fünf Monate erhalten hat. Hätte dieses Dienstverhältnis mehr als 15 Jahre gedauert, wäre zwar eine viermonatige Kündigungsfrist einzuhalten gewesen, die aber ebenfalls noch im entschädigten Zeitraum Deckung gefunden hätte. Der Kündigungstermin zum Quartalsende wäre also derselbe geblieben, allerdings wäre dem Kläger in diesem Fall keine auf das nächste Dienstverhältnis anrechenbare „nicht berücksichtigte“ Vordienstzeit verblieben.

 

Dieses Ergebnis mag auf den ersten Blick unbillig anmuten. Die Wurzel des Problems liegt allerdings nicht in der Methode der Vorzeitenanrechnung, sondern in jenem aleatorischen Moment, das der Verzerrung der gesetzlichen Kündigungsfristen durch die einzuhaltenden Kündigungstermine generell innewohnt. Unabhängig von der Länge der individuellen Kündigungsfrist kann ein um einen einzigen Tag verschobener Ausspruch der Kündigung oder des Austritts bei quartalsweisen Kündigungsterminen zu einer Verlängerung des Behalte- bzw Entschädigungszeitraums um drei Monate führen. Der langjährig beschäftigte Dienstnehmer hat daher keinen Anspruch darauf, dass ihm seine längere gesetzliche Kündigungsfrist in jedem Fall einen realen Vorsprung gegenüber kürzer beschäftigten Kollegen verschafft; der wesentliche Vorteil der Verlängerung der Kündigungsfristen mit der Dauer der Beschäftigung liegt in der garantierten Mindestdauer der Weiterbeschäftigung.

 

Für die Berechnung des nach § 3 Abs 3 2. Satz IESG gesicherten Anspruchs auf Kündigungsentschädigung ist der stets einzelfallbezogene Einfluss der Kündigungstermine auf die individuelle Dauer des Entschädigungsanspruchs auszublenden. Bei der Prüfung, ob Vordienstzeiten bereits bei der Berechnung früherer Ansprüche auf Kündigungsentschädigung berücksichtigt wurden, kommt es nur auf die konkret rechtlich erforderlichen Mindestzeiten an.