05.11.2017 Verfahrensrecht

VwGH: Verletzung der Entscheidungspflicht gem Art 130 Abs 1 Z 3 B-VG – zur Frage, wer befugt ist, das Säumnisbeschwerdeverfahren gem § 16 Abs 1 letzter Satz VwGVG einzustellen

Der Behörde nach Ablauf der ihr gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist und nach Ablauf durch § 16 Ab 1 VwGVG eingeräumten Nachholfrist eine neuerliche Zuständigkeit für eine Entscheidung in der Sache zuzuschreiben, findet weder im Gesetz noch in der Systematik des mit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 geschaffenen Verfahrensrechts Deckung; für eine Übertragung der Rsp zu § 36 Abs 2 VwGG aF auf § 16 VwGVG bleibt daher kein Raum


Schlagworte: Säumnisbeschwerde, Nachholung des Bescheides, Frist zur Erhebung der Säumnisbeschwerde, Einstellung, Zuständigkeit, Behörde, Verwaltungsgericht
Gesetze:

 

§ 16 VwGVG, Art 130 B-VG, § 73 AVG, § 8 VwGVG, § 12 VwGVG, § 27 VwGVG

 

GZ Ro 2017/20/0001, 19.09.2017

 

VwGH: Im hg Erkenntnis vom 27. Mai 2015, Ra 2015/19/0075, wurde bereits festgehalten, dass die Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gem Art 130 Abs 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) - neben dem in § 73 Abs 2 AVG geregelten Devolutionsantrag für jene Fälle, in denen auch nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Rechtsstufe (noch ausnahmsweise) Berufung erhoben werden kann, - dem Rechtsschutz gegen Säumnis der Behörden dient. Zweck dieses Rechtsbehelfes ist es, demjenigen, der durch die Untätigkeit einer Behörde beschwert ist, ein rechtliches Instrument zur Verfügung zu stellen, um eine Entscheidung in seiner Sache zu erlangen.

 

Nach den Erläuterungen zu § 16 Abs 1 VwGVG soll der Behörde im Verfahren über Säumnisbeschwerden die Möglichkeit eröffnet werden, die unterbliebene Erlassung eines Bescheides nachzuholen. Dies kommt in § 16 Abs 1 VwGVG darin zum Ausdruck, dass die Behörde im Verfahren über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gem Art 130 Abs 1 Z 3 B-VG innerhalb einer Frist von bis zu drei Monaten den Bescheid noch erlassen kann.

 

Zuständigkeit nach Erhebung der Säumnisbeschwerde § 16 Abs 1 VwGVG räumt der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit ein, innerhalb einer Frist von drei Monaten den Bescheid zu erlassen, ohne dass es erforderlich wäre, dass ihr dafür vom VwG ausdrücklich eine Frist eingeräumt werden müsste.

 

Diese Möglichkeit der Nachholung des Bescheides baut darauf auf, dass die Säumnisbeschwerde gem § 12 VwGVG bei der säumigen Verwaltungsbehörde einzubringen ist und setzt auch voraus, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung in der zu erledigenden Verwaltungsangelegenheit nicht schon alleine aufgrund der Einbringung einer - zulässigen und berechtigten - Säumnisbeschwerde auf das angerufene VwG übergeht. Demnach bleibt im Fall der Einbringung einer Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gem Art 130 Abs 1 Z 3 B-VG die Zuständigkeit der säumigen Behörde zur Entscheidung in der Verwaltungsangelegenheit bis zum Ablauf der dreimonatigen Nachholfrist gem § 16 Abs. 1 VwGVG bestehen. Dies gilt mit Ausnahme des Falles, dass die Behörde bereits vor Ablauf dieser Frist die Säumnisbeschwerde samt Verwaltungsakten dem VwG vorlegt (§ 16 Abs 2 VwGVG). Diese Sichtweise entspricht dem aus den Erläuterungen ersichtlichen Willen des Gesetzgebers, der Behörde im Verfahren über Säumnisbeschwerden die Möglichkeit zu eröffnen, die versäumte Erlassung des Bescheides nachzuholen.

 

Zuständigkeit nach Verstreichen der Nachholfrist:

 

Nach dem oben Gesagten geht infolge einer zulässigen und berechtigten Säumnisbeschwerde nach Vorlage derselben oder ungenütztem Ablauf der Nachfrist des § 16 Abs 1 VwGVG die Zuständigkeit, über die betriebene Verwaltungsangelegenheit zu entscheiden, auf das VwG über. Gleichzeitig erlischt die Zuständigkeit der Behörde spätestens mit Ablauf der dreimonatigen Nachfrist, die mit dem Einbringungszeitpunkt der - zulässigen und berechtigten - Säumnisbeschwerde zu laufen begonnen hat.

 

Tatbestandsvoraussetzung für den Zuständigkeitsübergang ist - ausgenommen im Falle einer Vorlage nach § 16 Abs 2 VwGVG - nur das ungenützte Verstreichen der Nachholfrist. Der Zuständigkeitsübergang tritt infolge der Einbringung einer zulässigen und berechtigten Säumnisbeschwerde, die die dreimonatige Frist in Gang setzt, unabhängig davon ein, ob die säumige Behörde den Bescheid nach Ablauf der Frist nachholt oder nicht. Da die nachträgliche Erlassung des die Verwaltungssache erledigenden Bescheides keinen Einfluss auf den bereits erfolgten Zuständigkeitsübergang hat, ändert die allfällige Aufhebung eines nach Zuständigkeitsübergang von der Behörde erlassenen Bescheides in einem nachfolgenden Beschwerdeverfahren ebenso nichts an der einmal eingetretenen Zuständigkeit des VwG für die Entscheidung in der Verwaltungsangelegenheit.

 

Das VwG ist nach Verstreichen der dreimonatigen Nachfrist zuständig, in der Verwaltungssache (meritorisch) zu entscheiden, ohne dass ein ausdrücklicher Abspruch über die Stattgebung der Säumnisbeschwerde vorzunehmen ist.

 

Wird der verwaltungsbehördliche Bescheid nach Ablauf der der Behörde gesetzlich eingeräumten Nachfrist erlassen, so ist dieser mit Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde belastet. Diese Rechtswidrigkeit ist im Falle der Erhebung einer Bescheidbeschwerde im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vom VwG gem § 27 VwGVG nicht nur über Einwand des Bf, sondern auch amtswegig wahrzunehmen. Weil nur eine iSd § 8 VwGVG zulässige und berechtigte Säumnisbeschwerde die Rechtsfolgen des Zuständigkeitsübergangs nach sich ziehen kann, umfasst die Prüfung der Zuständigkeit im Fall eines Beschwerdeverfahrens in einer Verwaltungsangelegenheit, in deren Zusammenhang eine Säumnisbeschwerde erhoben wurde, die Beurteilung der Zulässigkeit und Berechtigung der erhobenen Säumnisbeschwerde.

 

Zuständigkeit zur Vornahme der Einstellung:

 

Wird der Bescheid innerhalb der Nachfrist von der säumigen Behörde nachgeholt, so ist das Verfahren über die Säumnisbeschwerde gem § 16 Abs 1 zweiter Satz VwGVG einzustellen. Ergänzend ist festzuhalten, dass dies sowohl bei fristgerechter als auch bei verspäteter Bescheiderlassung gilt, weil das Gesetz als Tatbestandsvoraussetzung für die Einstellung des Säumnisbeschwerdeverfahrens die Erlassung des Bescheides bestimmt, ohne in diesem Zusammenhang zu differenzieren, ob der nachgeholte Bescheid noch innerhalb oder erst nach Ablauf der Dreimonatsfrist erlassen wurde.

 

Diese Rechtsansicht korrespondiert mit der Zielsetzung des Säumnisbeschwerdeverfahrens, nach dem Eintritt der Säumnis durch die Gestaltung der Bestimmungen über die Säumnisbeschwerde die Fällung einer Sachentscheidung in der kürzestmöglichen Frist herbeizuführen. Je früher dieses Ziel, auf welchem Weg immer (durch die Behörde oder das VwG), erreicht wird, desto eher wird dieser Zielsetzung entsprochen. Der zeitlich kürzeste Weg, den das Gesetz vorsieht, ist der der Nachholung des Bescheides durch die Behörde bis zum Ablauf der nach § 16 Abs 1 VwGVG eingeräumten Frist. Auch mit einem nach Ablauf der Nachfrist erlassenen Bescheid hat die Partei zunächst den von ihr mit ihrer Säumnisbeschwerde verfolgten Anspruch auf Entscheidung durchgesetzt, auch wenn dabei eine gesetzliche Bestimmung - nämlich, die zwischenzeitig eingetretene Zuständigkeit des VwG zur Entscheidung in der Sache - verletzt wurde. Diese Gesetzesverletzung geltend zu machen, ist in erster Linie der Disposition der Partei überlassen, als ihr die Entscheidung darüber offensteht, ob sie den Bescheid in Rechtskraft erwachsen lässt oder Beschwerde gegen den nachgeholten Bescheid erhebt. Die Gesetzesverletzung ist in dem allfälligen Beschwerdeverfahren vom VwG zu klären, während das Säumnisbeschwerdeverfahren als Rechtsschutzziel (nur) die Herbeiführung einer Entscheidung in der betreffenden Verwaltungsangelegenheit vor Augen hat und nicht die Richtigkeit der Entscheidung.

 

Die Einstellung des Säumnisbeschwerdeverfahrens ist nach der Systematik des § 16 VwGVG von der Verwaltungsbehörde vorzunehmen, weil § 16 Abs 2 VwGVG die Vorlage der Beschwerde unter Anschluss der Akten (nur) für den Fall vorsieht, dass die Bescheiderlassung von der Behörde nicht nachgeholt wird.

 

Diese Entscheidung der Behörde, das Verfahren einzustellen, enthält dabei zwar keinen Abspruch über die Berechtigung und Zulässigkeit der Säumnisbeschwerde iSd § 8 VwGVG, weil Voraussetzung für die Einstellung gem § 16 Abs 1 VwGVG ausschließlich der Tatbestand der Bescheiderlassung ist. Es handelt sich jedoch um die Entscheidung der Behörde, im Säumnisbeschwerdeverfahren wegen Erreichung des Rechtsschutzzieles keine weiteren Schritte zu setzen. Wegen der Bedeutung dieser Entscheidung für den Rechtsschutzsuchenden im Säumnisbeschwerdeverfahren kommt eine formlose Einstellung nicht in Betracht. Das Erfordernis einer bescheidmäßigen Einstellung wird dem Rechtsschutzgedanken im Säumnisbeschwerdeverfahren auch insofern gerecht, als der Antragsteller in die Lage versetzt wird, gegen die Einstellung im Wege eines eigenen Beschwerdeverfahrens vorzugehen, wenn er die Ansicht vertritt, dass die Verwaltungsangelegenheit durch den ergangenen Bescheid nicht oder nicht zur Gänze erledigt worden sei.

 

Auswirkungen der Einstellung:

 

Die Behörde hat als Voraussetzung für die Einstellung des Säumnisbeschwerdeverfahrens alleine auf die Tatbestandsvoraussetzung der Erlassung des Bescheides abzustellen. Auf die Kriterien des § 8 VwGVG nimmt § 16 VwGVG nicht Bezug.

 

Wie bereits dargelegt, geht spätestens nach Ablauf der Nachfrist des § 16 Abs 1 VwGVG die Zuständigkeit auf das VwG über und dieses hat nunmehr in der Verwaltungssache alleine zu entscheiden. Die Unzuständigkeit der Behörde ist gem § 27 VwGVG vom VwG im Bescheidbeschwerdeverfahren von Amts wegen aufzugreifen.

 

Der die Unzuständigkeit der bescheiderlassenden Behörde begründende Zuständigkeitsübergang tritt - wie bereits dargestellt - unabhängig von einer allfälligen nachträglichen Bescheiderlassung alleine aufgrund des ungenützten Verstreichens der dreimonatigen Nachholfrist nach Einbringung einer zulässigen und berechtigten Säumnisbeschwerde ein. Er bleibt als Rechtsfolge des Ablaufs der Nachholfrist aufrecht. Im Falle der Behebung des nachgeholten Bescheides fällt der Zuständigkeitsübergang nicht weg. Im Gegenteil stellt der eingetretene Zuständigkeitsübergang die Begründung für eine allfällige amtswegige Wahrnehmung der Unzuständigkeit der Behörde im Beschwerdeverfahren dar. Die als Rechtsfolge der Ingangsetzung des Fristenlaufs eingetretene Zuständigkeit des VwG zur Entscheidung in der Sache ist dem weiteren Beschwerdeverfahren zugrunde zu legen.

 

Eine von der Behörde vorgenommene Einstellung des Säumnisbeschwerdeverfahrens ändert daran nichts. Mit der Einstellung wurde lediglich erklärt, dass die Behörde im Säumnisbeschwerdeverfahren keine weiteren Schritte setzen werde. Diese beseitigt jedoch nicht die bereits eingetretene Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs, der im Verfahren über die Verwaltungsangelegenheit berücksichtigt werden muss.

 

Der Behörde nach Ablauf der ihr gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist und nach Ablauf durch § 16 Ab 1 VwGVG eingeräumten Nachholfrist eine neuerliche Zuständigkeit für eine Entscheidung in der Sache zuzuschreiben, findet hingegen weder im Gesetz noch in der Systematik des mit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 geschaffenen Verfahrensrechts Deckung. Für eine Übertragung der Rsp zu § 36 Abs 2 VwGG aF auf § 16 VwGVG bleibt daher kein Raum.